Markus Ritter zur Biodiversitätsinitiative: «Es gäbe massive Einschränkungen»

Am 22. September stimmt die Schweiz über die Biodiversitätsinitiative ab. Der Schweizer Bauernverband (SBV) kämpft für ein Nein. Markus Ritter, Präsident des SBV, erklärt im Interview, welche Konsequenzen eine Annahme für die Landwirtschaft und andere Branchen hätte.

«30 Prozent Fläche weg», das ist auf vielen Nein-Plakaten zu lesen. Ist der Slogan des Nein-Komitees nicht etwas übertrieben?

«30 Prozent Fläche weg. Tschüss Schweizer Lebensmittelproduktion», das ist auf vielen Nein-Plakaten zu lesen. Ist der Slogan des Nein-Komitees nicht etwas übertrieben?
Markus Ritter: Nein. Wir haben ­einen Selbstversorgungsgrad bei Lebensmitteln von unter 50 Prozent. Jedes Jahr sinkt er um ein Prozent. Das hat mit der Bevölkerungsentwicklung und schwierigen Erntejahren zu tun, aber auch, dass viele Flächen verbaut wurden. Es hängt aber auch damit zusammen, dass die Landwirtschaft bereits jetzt schon 19 Prozent Biodiversitätsförderflächen (BFF) zur Verfügung stellt. Wenn man die Initiative umsetzt, würde es nach unseren Berechnungen nochmals 146 000 Hektaren Kulturland brauchen, um alle Vernetzungsstreifen und wertvollen Gebiete auszuscheiden. Das drückt nochmals massiv auf den Selbstversorgungsgrad.

Wie kommen Sie auf 30 Prozent? Im Initiativtext steht kein Wort davon.
Ritter: Eine der Hauptinitiantinnen ist Pro Natura. Diese Umweltschutzorganisation hat im Dezember 2023 in einer Medienmitteilung gefordert, 30 Prozent unter Schutz zu stellen. In der Mitteilung publizierte sie auch, dass nur acht Prozent der Schweizer Flächen die notwendige Qualität aufweisen Somit fehlen noch 22 Prozent. Das sind rund 900 000 Hektaren. Davon wären 146 000 Hektaren Landwirtschaftsfläche.

Die erwähnte Medienmitteilung nimmt Bezug auf das «30 by 30»-Ziel der UNO-Biodiversitätskonferenz, die 2022 in Montreal stattfand. Dieses Abkommen hat nichts mit der Biodiversitätsinitiative zu tun. Das «30 by 30»-Ziel verlangt den Schutz von 30 Prozent der weltweiten Landes- und Meeresfläche.
Ritter: In der Medienmitteilung steht aber auch: «Wenn es um den Biodiversitätsschutz in der Schweiz geht, klaffen Anspruch und Realität auseinander.» Dann kommen sie mit den acht Prozent Schutzgebieten, die in der Schweiz bisher genügend in der Qualität sein sollen. Das ist ihre eigene Rechnung, die sie machen.

Die Medienmitteilung nimmt aber keinen Bezug auf die Initiative.
Ritter: Richtig. Pro Natura hat uns aber noch nie widersprochen. Richtig ist auch, dass diese Mitteilung nicht von den Initianten kommt. Pro Natura, als grösste Umweltorganisation im Biodiversitätsbereich, gehört aber zu den Hauptinitianten. Wenn die Initiative angenommen wird, geht es um die Umsetzung. Dann geht es um das Wording und das Narrativ der Initiative. Darum stützen wir uns im Abstimmungskampf auf ihre Zahlen ab und zitieren sie.

Also schlägt das Nein-Komitee Pro Natura respektive die Initianten mit den eigenen Worten und packt die 30 Prozent in die Nein-Kampagne.
Ritter: Genau. Zusammen mit den acht Prozent. Ich bestreite sowieso, dass nur acht Prozent eine gute Qualität aufweisen sollen. Zudem haben wir in der Schweiz viele Flächen im alpinen Raum, die praktisch unberührt sind.

Die Initianten gestehen ein, dass sich unsere Landwirtschaft bereits heute für den Erhalt der Biodiversität engagiert. Aber es reiche nicht. Wie sehen Sie das?
Ritter: Das sehen wir anders. Die Landwirtschaft tut sehr viel. Wir haben heute 19 Prozent BFF auf Kulturland. Das sind 190 000 Hek­taren. Verpflichtend wären sieben Prozent. Das Sömmerungsgebiet ist rund 450 000 Hektaren gross. Davon sind rund 200 000 Hektaren artenreich. 43 Prozent der BFF weist QII auf. 80 Prozent der BFF ist vernetzt. Die Entwicklungen der letzten 20, 25 Jahre im Bereich Biodiversität in der Landwirtschaft sind sehr positiv. Das zeigt auch eine Studie, die der SBV in Auftrag gegeben hat.

Sie sprechen die Studie von Marcel Züger von der Pro Valladas GmbH in Salouf an?
Ritter: Ja. Marcel Züger ist anerkannter ETH-Biologe und Naturschützer der ersten Stunde. Er war auch für die SP im Grossen Rat des Kantons Graubünden. Gemäss dieser Studie hat sich der Artenreichtum in der Schweiz in den letzten 25 Jahren erholt und verbessert. Das ist auch der Landwirtschaft zu verdanken. Es gibt sicher Bereiche mit Verbesserungsbedarf. Aber das Narrativ, das die Umweltschutzverbände über Jahre aufgebaut haben, dass die Biodiversität in einer Krise stecke und kurz vor dem Kollaps stehen solle, hat Risse bekommen.

Gemäss Initiative würden Bauernfamilien besser dafür entschädigt, dass sie Sorge zur Natur tragen. Das tönt doch gut. Finden Sie nicht?
Ritter: Seit 25 Jahren erhält die Landwirtschaft gleich viel Direktzahlungen. Ich habe noch nie erlebt, dass uns Umweltschutzverbände unterstützten, wenn es um den Zahlungsrahmen ging. Selbst beim Zahlungsrahmen 2026 bis 2029 waren die Umweltverbände fast die einzigen, die ihn senken wollten. Die Direktzahlungen wurden bisher nur umverteilt. Das schwebt ihnen auch künftig vor. Wir sind nicht gegen die Biodiversität, wollen aber keine zusätzlichen Flächen mehr. Wenn man die Direktzahlungen nur umverteilt, verliert die Landwirtschaft mit noch mehr BFF weiter an Produktivität und die Bauern haben Mehraufwände. BFF geben Arbeit – auch Handarbeit. Man muss Berufkraut, Blacken und Ackerdisteln entfernen. So geht die Rechnung nicht auf.

Die Biodiversitätsinitiative zielt zwar zu einem guten Stück auf die Förderung der Biodiversität in der Landwirtschaft ab. Aber es sind noch ganz andere Bereiche betroffen. Die Initiative schliesst zum Beispiel auch den Heimatschutz mit ein. Mehr Landschaften, Ortsbilder, Natur- und Kulturdenkmäler könnten unter Schutz gestellt werden. Welche Folgen hätte dies für die Landwirtschaft?
Ritter: Wenn die Initiative im September angenommen würde, wäre dies der jüngste Volksentscheid. Der Schutzcharakter von Landschaften, Ortsbildern und Natur- und Kulturdenkmälern würde verstärkt werden. Das bedeutet, dass sämtliche einspracheberechtigten Organisationen das Verbandsbeschwerderecht noch breiter geltend machen könnten. Ihre Position, ein Projekt in der Landwirtschaft und auch ausserhalb zu bekämpfen, würde gestärkt. Bauvorhaben werden noch schwieriger umzusetzen sein. Wir sind der Meinung und mit uns andere Verbände wie der Gewerbe- und Baumeisterverband und auch der Tourismus, dass das heutige Verbandsbeschwerderecht keinesfalls weiter ausgebaut werden soll. Es ist heute schon schwer, etwas zu bauen. Das gilt auch für den Bereich der erneuerbaren Energien. Darum ist auch der Dachverband der Wirtschaft für erneuerbare Energien und Energieeffizienz dagegen.

Bauernpräsident Markus Ritter schätzt die Biodiversität und fördert sie auch auf seinem Betrieb. Die Initiative sei aber übertrieben und unnötig. Bild: Melanie Graf

Wir haben am 9. Juni das Stromgesetz angenommen.
Ritter: Mit Annahme der Initiative, würde man den Stecker gleich wieder ziehen. Mit dem Stromgesetz haben wir ein Gesetz angenommen. Bei der Biodiversitätsinitiative stimmen wir über einen Verfassungsartikel ab. Dieser wird höher gewichtet in der Rechtssprechung.

Die Initianten verneinen, dass es schwieriger werden würde, Projekte im Bereich erneuerbarer Energien umzusetzen. Zitat: «Auf 98 Prozent der Landesfläche ist die Inte­ressenabwägung zwischen Schutz und Energie weiterhin möglich.» Wie erklären Sie das?
Ritter: Ich bestreite nicht, dass eine Interessensabwägung weiterhin möglich ist. Ich bestreite auch nicht, dass bei einem Projekt die Interessensabwägung auch gemacht werden muss. Es gibt aber eine Masse an Umweltorganisationen, die das Verbandsbeschwerderecht haben. Wenn nur eine dieser national tätigen Organisationen dieses Recht geltend macht, wird es sehr schwierig, ein Projekt zu realisieren. Wenn alle still und zufrieden sind, keine Einsprachen machen, dann stimmt die Aussage. Aber das wird nicht so sein. Darum muss sich die Bevölkerung gut überlegen, was sie abstimmt.

Sie haben schon einige erwähnt. Es sind zahlreiche Verbände – aus Wirtschaft, Elektrizität, Alpwirtschaft, Bau, Gewerbe und Wald – gegen die Initiative. Stimmt Sie diese Rückendeckung zuversichtlich, die Abstimmung zu gewinnen?
Ritter: Die Initianten haben einen grossen Fehler gemacht. Wenn man einen Gegenvorschlag erreichen will, ist es gut, wenn man bei einer Initiative mit «Schrot» schiesst. Das heisst, man stellt die Forderungen breit und hofft, dass mit einem indirekten Gegenvorschlag ein paar Ziele erreicht werden. Eine breit angelegte Initiative mit sehr vielen Zielen ist in einer Volksabstimmung allerdings verheerend. Jeder Punkt oder eben jede Kugel, die jemanden trifft, ist jemand, der sich wehrt. Das ist der Grund, warum so viele Verbände gegen diese Initiative sind. Wenn wir uns im Abstimmungskampf engagiert einsetzen, bin ich zuversichtlich, dass wir die Abstimmung gewinnen und ein Nein erreichen können.

Der Schweizer Tourismusverband (STV) hat ebenfalls die Nein-Parole beschlossen. Der Tourismus befürchtet Einschränkungen. Warum?
Ritter: Den städtischen Tourismus tangiert es weniger. Aber der alpine Tourismus wäre stark betroffen. Infrastrukturen, wie Bergbahnen, stehen in sensiblen Landschaften. Es ist heute schon fast unmöglich, in diesen Gebieten etwas Neues zu realisieren oder zu erneuern. Der Tourismus befürchtet, wenn 30 Prozent Schutzflächen ausgeschieden werden, würde kaum noch etwas machbar sein.

Auch der Wald und die Waldwirtschaft sind von der Initiative betroffen. Wie?
Ritter: 31 Prozent der Schweizer Landesfläche oder 1,3 Millionen Hektaren sind Wald. 30 Prozent der Fläche sollen unter Schutz gestellt werden. Die Waldwirtschaft müsste 300 000 Hektaren abtreten. Diese werden zu Urwäldern. Wenn man Biodiversität in einem Wald aber will, muss man den Wald nutzen und Licht reinbringen. Das gibt neuen Lebensraum für Pflanzen und Tiere. Wenn man das Holz verfaulen lässt, gibt es zudem weniger nachhaltige Energie und weniger Holz für den Bau. Dieses Holz muss zusätzlich importiert werden.

Mit welchen Konsequenzen muss die Landwirtschaft rechnen, wenn die Initiative angenommen wird?
Ritter: Es gäbe einen neuen weitreichenden Verfassungsartikel. Dieser greift in der bundesgerichtlichen Rechtsprechung. Die Frage ist, was wird nachfolgend im Gesetzgebungsprozess umgesetzt. Ich glaube nicht, dass Pro Natura und die Initianten von ihren Forderungen, die sie in der Medienmitteilung vom Dezember 2023 und in der parlamentarischen Debatte gestellt haben, abrücken. Das heisst, sie würden probieren, im Gesetzgebungsprozess ihre Maximalforderungen durchzusetzen. Sie werden Druck machen, dass die Landwirtschaft ihre Biodiversitätsflächen ausdehnen muss. Da komme ich wieder auf diese 30 Prozent. Sie stützen sich aber nicht nur darauf. Im ersten Gegenentwurf des Bundesrats, der abgelehnt wurde, stand, dass die Kantone die geschützten Flächen über die Richtpläne als behördenverbindlich ausscheiden müssten. Damit gäbe es massive Einschränkungen für die Landwirtschaft. Und noch ein Blick in die Glaskugel: Was eine Annahme der Biodiversitätsinitiative für die Agrarpolitik 2030 bedeuten würde, muss hier nicht näher ausgeführt werden.

Um was geht’s in der Biodiversitätsinitiative?

Die eidgenössische Volksinitiative «Für die Zukunft unserer Natur und Landschaft», kurz Biodiversitätsinitiative, fordert eine Änderung der Bundesverfassung. Sie will Bund und Kantone im Rahmen ihrer Zuständigkeiten in die Pflicht nehmen, dass schutzwürdige Landschaften, Ortsbilder, geschichtliche Stätten sowie Natur- und Kulturdenkmäler bewahrt werden. Die Natur, die Landschaft und das baukulturelle Erbe soll auch ausserhalb der Schutzobjekte geschont werden. Zudem sollen Bund und Kantone zur Sicherung und Stärkung der Biodiversität erforderliche Flächen, ­Mittel und Instrumente zur Verfügung stellen. Trägerorganisationen der ­Initiativen sind unter anderem Pro Natura, Bird Life und der Schweizer Heimatschutz. Gegen die Initiative kämpfen der Schweizer Bauernverband, Wald Schweiz, Schweizer Tourismus, der Dachverband der Wirtschaft für erneuerbare Energien und Energieeffizienz und viele weitere Verbände aus Bau- und Gewerbe sowie politische Parteien wie die Mitte, die FDP und die SVP. Die Gegner sind sich einig, dass die biologische Vielfalt wichtig sei und es Massnahmen zu ihrer Förderung brauche. Die Initiative schiesse aber über das Ziel hinaus. Dieser Meinung ist auch der Bundesrat und das Parlament. Sie lehnen die Initiative ab. meg.

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