Eine Gemeinschaft lebt für Kastanien
Über Jahrhunderte waren Kastanien im Puschlav ein Grundnahrungsmittel. Kartoffeln, Getreide, der wachsende Wohlstand und Krankheiten verdrängten das stärkehaltige Nahrungsmittel vom Speiseplan. Dank innovativer Leute, geselliger Castagnatas und der Sagra della Castagna ist die Schalenfrucht wieder gefragt.
«Während der zwei Wochen Kastanienernte im Oktober sind wir etwas verrückt», schmunzelt Piero Pola aus Campocologno. Der 55-Jährige besitzt 28 Kastanienbäume, die er von seinem Vater geerbt hat. Als kaufmännischer Angestellter in der Verwaltung des Gesundheitswesens im Puschlav nimmt er sich jeweils zwei Wochen Ferien für die Ernte.
Dazu leitet er auch Führungen während der Sagra della Castagna, der Kastanienwoche im Oktober, die Hunderte von Einheimischen und Touristen anzieht. Zusammen mit Beerenbauer Nicolò Paganini aus dem Nachbardorf Campascio und dem Verein «Castanicoltori Brusio» ist er mitverantwortlich, dass das jahrhundertealte Erbe weiterlebt.
Brotbaum für die Bewohner
Die Kastanien waren im Puschlav, wie im Misox, Bergell, Tessin, bei Fully, im Chablais und in der Zentralschweiz um die Rigi weit verbreitet. Seit dem Mittelalter hatte die Edelkastanie einen hohen Stellenwert. Sie war in mehrfacher Sicht «Brotbaum». Oder wie es Piero Pola bildlich beschreibt: «Was bei anderen auf die Kuh zutraf, galt für die Kastanien. Sie lieferten vieles, was es zum Leben brauchte.»
Aus Sicht der Ernährung waren sie wegen ihres Nährwertes und der Haltbarkeit beliebt. Das Laub war für die Füllung von Matratzen oder als Einstreu geeignet, während das Holz des Baumes besonders im Rebbau begehrt war. Die Blüten gegen Ende Juni sind noch heute Nahrung für die Bienen. «Reiner Kastanienhonig ist dunkler und herb. Mit Nektar von Früchten wird er jedoch angenehm aromatisch», weiss Nicolò Paganini.
2000 Bäume im grössten Hain
Das Anbaugebiet im Val Poschiavo reicht vom RhB-Kreisel in Brusio bis an die italienische Grenze bei Tirano. Der Kastanienhain zwischen Campocologno und Campascio ist der grösste im Puschlav. Hier stehen rund 2000 Bäume, die bis zu 150 Jahre alt sind. Solch alte Bäume zeichnen sich durch tiefe zerfurchte Rinden aus, während am Rand dieses Hains die Jungpflanzen noch gräulich glatte Stämme haben. Einzelne erinnern in ihrer Verformung und Knorrigkeit an Olivenbäume. Sie sind parkähnlich gepflanzt. So lassen sie sich gegenseitig genügend Licht und Raum für die ausgedehnten Baumkronen.
Während früher Tiere darin weideten, wird das Gras heute gemäht. Das Gelände liegt am Berghang. Trockenmauern, Rinnen oder Vertiefungen wirken als Auffangbecken für die herunterfallenden Kastanien. So bleiben die Früchte beim Baum und seinem privaten Besitzer. Das Sammeln von Kastanien ist für andere verboten, auch wenn der Boden der Gemeinde gehört.
«Die Gemeinde Brusio hatte einst Geldsorgen. So kam es, dass sie das Recht, Kastanienbäume zu pflanzen, das jus plantandi, versteigerte», erzählt Piero Pola. Dieses Gesetz kennt man auch im Tessin und wurde seit dem 11. Jahrhundert angewendet. Eine Familie mit sechs Personen ass rund 600 bis 900 Kilo Kastanien pro Jahr, sei dies gebraten, gesotten oder in getrockneter Form, gemahlen auch als Mehl.
Zu klein für den Handel
In guten Jahren kann ein Kastanienbaum bis zu 100 Kilo Früchte tragen. Im Puschlav allerdings eher 25 bis 30 Kilo. Während es im Tessin über 100 verschiedene Kastanien- und Marronisorten gibt, kannte und kennt man im Tal etwa fünf. Besonders beliebt ist die autochthone Sorte «Tudiscia». «Sie ist zwar klein, dafür besonders aromatisch und süss. Die grossen, glänzenden Edelkastanien überlassen wir lieber anderen», sagen die zwei Einheimischen schmunzelnd.
Der Niedergang der Kastanien begann mit der Veränderung in der Ernährung: Kartoffeln, Getreide und Mais übernahmen immer stärker ihren Platz. Dazu kam der steigende Wohlstand. Aber auch der Kastanienrindenkrebs, der von Japan über die USA nach Europa kam. Im Tessin wurden Kastanienhaine bald gerodet. Das Holz war als Kohle in den Fabriken bis nach Mailand gefragt.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurden auch im Puschlav die Bäume vernachlässigt. Die Haine waren bis in die 1990er-Jahre in einem desolaten Zustand. Dann begann schweizweit ein Umdenken. Bund, Kanton und die Gemeinde unterstützten finanziell die Verjüngung. Gemeindearbeiter schnitten im Puschlav zwischen 1992 bis etwa 2005 über 1000 Bäume und revitalisierten so rund 20 von über 40 Hektaren Haine. Noch heute hat jeder Baumbesitzer Anrecht auf einen Schnitt alle acht Jahre, welchen die Kommune finanziert.
1000 Kilo Kastanien fürs Fest
Zur Erntezeit ab Anfang Oktober kommen auch ausgewanderte Puschlaver ins Tal zurück. Bevor die ersten Igel herunterfallen, wird der Boden unter den Bäumen gesäubert. Äste und alte Blätter werden zu kleinen Haufen aufgeschichtet. Sie werden nach der Erde aus dem Wald getragen, weil das Verbrennen heute nicht mehr erlaubt ist. Zu frische, unreife Kastanien haben einen unbeliebten Kräutergeschmack. Erst wenn sich die Igel selber öffnen, sind die Früchte reif.
Wer die Früchte zwecks Haltbarkeit nicht selbst sechs bis neun Tage wässern und anschliessend trocknen lassen will, bringt sie zur Sammelstelle beim Unternehmen «piccoli frutti» und damit zu Nicolò Paganini, wo sie so haltbar gemacht werden. Von den 2000 Kilo Kastanien werden rund die Hälfte während der Sagra della Castagna gegessen und verkauft. In dieser Woche, die ganz im Zeichen der Kastanie steht, können Besucher mit Piero Pola lehrreiche Spaziergänge in die Haine unternehmen.
Zudem ist er am Kastanienfest in Campascio, das seit 2001 stattfindet, einer der rund 15 Marunat, ein Marronibrater aus Leidenschaft. Dabei braten sie die Marroni in einer offenen Pfanne auf dem Holzfeuer. Die heissen Marroni heissen hier «Brasché». Gleichzeitig werden in vielen Restaurants Marroni-Menüs angeboten.
Das Überleben bleibt fragil
Viele Kastanien und Marroni werden im Tal bei sogenannten Castagnatas auch im geselligen Rahmen der vielen Vereine gebraten und mit einheimischem Rotwein genossen. Was übrig bleibt, wird in den Läden im Puschlav oder in Chur als ganze Früchte verkauft. «Wir können sie nicht schälen, weil uns die Einrichtung fehlt. Entsprechend können wir sie auch nicht an Confiseure oder Köche verkaufen», ergänzt Nicolò Paganini. Bäuerin Valentina Zanolari aus Campascio ist fast die Einzige, die einen Teil ihrer eigenen Kastanienernte zu Produkten weiterverarbeitet und verkauft. Ihre Kastaniencreme, ein Brotaufstrich, ist auf Märkten und am Kastanienfest gefragt.
Selbst wenn die ganze Talschaft an einem Strick auch in Sachen Kastanien zieht, das Überleben der Kastanienhaine bleibt fragil. 2012 kam die Gallwespe ins Puschlav. Weil sie hier noch keine natürlichen Feinde hatte, gab es vier bis fünf Jahre kaum eine Ernte. Zudem fehlt das Wissen, die einheimische Sorte «Tudiscia» zu vermehren. Überlebenswichtig wird es vor allem auch sein, so begeisterte Menschen wie Nicolò Paganini und Piero Pola zu finden, die das Erbe in den Kastanienhainen weiter hegen und pflegen.