Mehr als nur ein Streichelzoo

Der Betrieb von Nadia und Raphael Reusser in Helsighausen hat sich in den letzten Jahren von einem reinen Ackerbaubetrieb zu einem Biohof mit vielfältigem Tierbestand gemausert. Das junge Betriebsleiterpaar scheut es nicht, Neues zu wagen, auszuprobieren und eigene Erfahrungen zu sammeln.

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Mit den Engadiner Schafen zogen die ersten Tiere auf den Biohof Reusser.

«Das war mal ein alter Lastwagenanhänger», sagt Raphael Reusser und zeigt auf den mobilen Hühnerstall. «Den habe ich günstig in Zürich erworben und mit Holz von meinem Vater zu einem Mobilstall nach Bio Suisse Normen umgebaut. Für das Dach konnte ich Occasionsblech auftreiben und die Inneneinrichtung von einem anderen Betrieb übernehmen. Das Ganze ist dadurch kostengünstig und nachhaltig, alles andere wird zu teuer für die Direktvermarktung», führt der Landwirt aus.

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Raphael Reusser hat beim Bau seines Hühnerstalls einen alten LKW-Anhänger recycelt.

Während des Gesprächs tummeln sich Hühner auf der Wiese um den Mobilstall, der zurzeit seinen Standort auf einer Anhöhe oberhalb des Hofes hat. 2017 starteten Nadia und Raphael Reusser mit fünf Hühnern, mittlerweile können sie 90 Hühner ihr Eigen nennen und Raphael Reusser durfte nach dem vierten selbstgebauten Stall an architektonischem Expertenwissen dazu gewonnen haben. Die Hühnerschar ist bunt gemischt – von braunen und weissen Hybridhühnern über Spezialrassen, wie Spitzhaubenhühner ist alles vertreten. «Viele stammen aus Grossställen, die geleert werden», erklärt der Landwirt. Mit rund eineinhalb Jahren kommen sie auf den Biohof der Familie Reusser und bleiben bis die Natur sie holt. Für was? Natürlich als Eierproduzentinnen für die Direktvermarktung. Der Biohof Reusser liegt an einer vielbefahrenen Landstrasse zwischen dem Untersee und Märstetten und hat dort einen kleinen Direktvermarktungsladen postiert. «So sehr die Strasse und der Verkehr mich oft nerven, in Hinblick auf die Direktvermarktung ist sie ein Vorteil», weiss der 30-Jährige. Es seien genug Parkmöglichkeiten vorhanden, wodurch die Kunden nur kurz anhalten und nicht auf den Betrieb fahren müssten. Dies verringere die Hemmschwelle.

Gartenhäuschen mit Potenzial

 Im Selbstbedienungsladen bieten Reussers von 8 bis 20 Uhr ihre eigenen Produkte an wie die bereits benannten Eier aber auch Fleischsorten vom Biofreilandschwein, Biolamm oder Kaninchen. Zusätzlich wird der Laden mit überschüssigem Gemüse bestückt. Auch Dinkelmehl von der Mühle Wartenberger wird angeboten, als einziges auswärtiges Produkt. Der Landwirt erklärt hierzu: «Ich beliefere die Mühle mit meinem Dinkel und kaufe im Gegenzug das Dinkelmehl für meinen Laden ein.»

So sehr die Strasse und der Verkehr mich oft nerven, in Hinblick auf die Direktvermarktung ist sie ein Vorteil.

Mit einem Gartenhäuschen aus dem Baumarkt hatte vor zwei Jahren der Versuch mit dem «Lädeli» an der Strasse begonnen und heute wissen Reussers: «Es läuft einfach immer besser.» Die Ausstellungsfläche im Gartenhäuschen wird langsam knapp, zudem ist es nicht isoliert. Deshalb wollen sie zukünftig in ein grösseres, komfortableres Häuschen investieren.

Vom reinen Ackerbau zur Tierhaltung

Zurück auf der Hühnerwiese schweift der Blick über die bunte Vielfalt. Ein umgebauter Bauwagen der Nachbarin beherbergt die Stallkaninchen, auf der angrenzenden Koppel freut sich eine kleine Gruppe Bündner Strahlenziegen über einen Eimer Kraftfutter. Walliser Schwarznasenschafe sind hinter dem Hühnerstall auszumachen und in Sichtweite des Hofes grasen zwei Evolener. Nach kurzem Fussmarsch erreicht man eine Herde Engadiner Schafe sowie einen Restbestand an Freilandschweinen.

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Von März bis Juli bevölkern 25 Freilandsauen die Wiesen rund um den Biohof Reusser.

Derart viele tierische Bewohner gab es nicht immer auf dem Hof in Helsighausen. Raphael Reussers Eltern führten neben ihrer Tätigkeit als Lohnarbeiter einen konventionellen Ackerbaubetrieb mit Mais, Raps und Brotgetreide. 2017 gaben sie den Betrieb an Raphael Reusser ab und konzentrierten sich ganz auf die Lohnarbeit. Nadia und Raphael Reusser sind derzeit Pächter des Betriebs und begannen bereits im ersten Jahr mit der Umstellung auf biologische Landwirtschaft. Heute haben sie den Hof um eine beachtliche Zahl an Tieren erweitert und bauen biologisches Brot- und Futtergetreide, sowie Sojabohnen und Mais an. Dies stellte für die ältere Generation nie ein Problem dar. «Sie schwatzen uns nicht rein, was in der Landwirtschaft nicht selbstverständlich ist», gibt Raphael Reusser schmunzelnd zu.

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Ein Kollege schenkte dem Landwirt zum Geburtstag zwei Evoloner.

Schon immer ein Landwirt

Der 30-jährige Thurgauer berichtet, dass der Beruf Landwirt für ihn schon immer feststand. Zuvor absolvierte er aber eine Ausbildung als Landmaschinenmechaniker, ebenfalls ein langgehegter Traumberuf von ihm. Doch habe er immer auf dem landwirtschaftlichen Betrieb mitgeholfen und viel von seinen Eltern gelernt. Dieses praktische Wissen konnte er in seiner Zweitausbildung zum Landwirt am Arenenberg theoretisch vertiefen.

Für Reussers stellte sich Bio schnell als der richtige Weg heraus. Schon lange hätten sie sich mit der Thematik befasst und den Bioboom beobachtet. Raphael Reusser zeigt sich überzeugt, dass man in der biologischen Landwirtschaft schneller an Informationen gelange, da der Austausch unter den Biobauern intensiver und reibungsloser funktioniere. Er selbst ist im Organisationskomitee von Bioackerbau Ostschweiz tätig, worüber jährlich vier Veranstaltungen geplant werden. «Ich schätze das Ausdiskutieren untereinander sehr», so Reusser.

Jedes Tier hat seinen Nutzen

Das bunte Treiben und die Idylle auf dem Biohof könnten einen dazu verleiten zu glauben, Reussers seien aus purer Freude und aus einem Hobbygedanken heraus zur Tierhaltung gekommen. Doch der Schein trügt. Tierbegeistert sind wohl beide gleichermassen. Ob und welche Tiere angeschafft werden, wird miteinander entschieden und gründlich durchdacht. Der Kosten-Nutzenfaktor spielt dabei genauso eine Rolle, wie der tägliche Arbeitsaufwand. Eine Voraussetzung für die Haltung ist, dass im Winter alle Tiere in einem Stall Platz finden. Mit den Engadiner Schafen zogen die ersten Tiere auf den Hof. 25 Muttertiere sind es mittlerweile und es dürften noch mehr werden. Die extensive Rasse ist leicht zum Beweiden. Die Lämmer werden mit circa sechs Monaten zur biozertifizierten Metzgerei von Felix Neidhardt in Ramsen gebracht und das Fleisch im Hofladen, über den Onlinekanal oder Mund-zu-Mund vermarktet. Genauso verhält es sich mit den 25 Freilandsauen, die jedes Jahr von März bis Juli auf den Wiesen rund um den Hof leben.

Viele fragen, ob sie mal mit den Kindern streicheln gehen dürfen. Auch eine Kindergartengruppe war bereits hier.

Die Kunden reservieren sich meist ihre Mischpakete im Vorfeld. So erklärt Reusser für jede Tierrasse die Daseinsberechtigung am Hof: Bündner Strahlenziegen sollen künftig Milch und Fleisch liefern oder als Zuchttiere lebend verkauft werden. Die in der Schweiz selten gewordenen Evolener Kühe könnten Kalbfleisch liefern oder als Zuchttiere weiterverkauft werden. Selbst die Kaninchen finden ihre Abnehmer: «Wir hatten ursprünglich den Kindern zwei Zibben gekauft. Mittlerweile sind es 20 oder mehr, die wir als Masttiere nutzen. Wir dachten es gäbe eine grössere Hemmschwelle bei den Kunden, weil es sich um ein so herziges Tier handelt. Aber wir bringen das Fleisch immer gut weg.»

Natürlich locke die Vielfältigkeit des Betriebs Besucher an. «Viele fragen, ob sie mal mit den Kindern streicheln gehen dürfen. Auch eine Kindergartengruppe war bereits hier. Es bietet sich an, weil wir von allem etwas haben», weiss der Landwirt. Trotzdem ist das mehr als nur ein Streichelzoo.

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