«Büschelifrau» Hanni Graf pflegt ein selten gewordenes Handwerk
Hanni Graf aus Heiden hat nach dem Tod ihres Manns ein neues Hobby gefunden. Die 83-jährige Seniorin bindet am Waldrand Büscheli und pflegt damit ein selten gewordenes Handwerk.
Der Herbsttag zeigt sich nochmals von seiner schönsten Seite. Die Bäume, deren Blätter in Rot-, Gelb- und Brauntönen leuchten, verlieren bereits ihr Kleid. Ein sanfter Wind streift durch die Wipfel und trägt das Rascheln des herabfallenden Laubs mit sich, das sich bald in dichten Schichten auf dem Waldboden ausbreitet. Auf der Weide weiden Rinder.
Gegenüber auf einer Lichtung am Waldrand steht Hanni Graf, über ihren Büschelibock gebeugt. Um sie herum türmen sich akkurat aufgeschichtete Büscheli, gespaltene Holzscheite und ein Haufen mit Ästen und Zweigen. Die 83-jährige Frau arbeitet konzentriert und sorgfältig. Mit geschickten Händen bündelt sie die trockenen Zweige, spaltet ab und zu mit der Axt ein Holzscheit, bevor sie das Holz auf den Bock legt. «Die dicken Scheite kommen aussen, die dünneren innen und das feine Reisig in die Mitte», erklärt die «Büschelifrau». Zufrieden betrachtet sie ihr Werk, nachdem sie das Büscheli fest zusammengebunden und nochmals in Form gestutzt hat.
Ein aussterbendes Handwerk
Hanni Graf ist eine der letzten «Büschelimacher». Für sie ist «Büschele» ein geliebtes Hobby und der Platz am Waldrand oberhalb ihres Zuhauses im Bühlen in Heiden ihr Lieblingsplatz. Nachdem ihr Mann Emil im Januar 2006 gestorben ist, hat die rüstige Seniorin den idyllischen Platz und die Arbeit, Brennholzbündel für den Winter zu machen, übernommen. «Als mein Mann gestorben ist, lag noch so viel Holz zum Büschelen herum. Ich dachte mir, dann mache ich das eben. Ich habe meinem Mann manchmal zugeschaut, deshalb wusste ich ja, wie es geht. Heute ist Büschele mein schönstes Hobby», schwärmt die Seniorin. Auf ihrem Elektrodreirad fährt sie von ihrem Haus hinauf zu ihrem Lieblingsplatz am Waldrand, wo sie oft anzutreffen ist. Ihr Gesicht, von den Jahren geprägt, strahlt Ruhe und Zufriedenheit aus, wenn sie vertieft in ihre Lieblingsbeschäftigung ist. Ebenso geniesst sie es, wenn Wanderer oder Hundehalter bei ihr Halt machen und Zeit für ein Schwätzchen haben.
Puure, anno dazumal
Das Appenzellerland ist die Heimat von Hanni Graf. Ihr Elternhaus lag weit oberhalb vom Dorf Bühler an der Strasse nach Trogen im Jon. Zwischen Wiesen, Weiden und Wäldern ist sie als Älteste von sechs Geschwistern aufgewachsen. Die Eltern führten einen einfachen Bauernbetrieb mit Milchkühen, Schweinen und sieben Hektaren Wald. Wie es damals üblich war, mussten die Kinder mithelfen. «Wir hatten damals noch keine Maschinen und mussten alles von Hand machen. Ich habe auch gelernt, von Hand zu melken. Am schwierigsten war für mich das Ausmelken», erzählt die Bauerntochter und lächelt bei der Erinnerung an eine längst vergangene Zeit. «Beim Heuen halfen manchmal auch die Nachbarskinder mit. Die Mutter unseres Vater schaute jeweils als Letzte in der Reihe, dass wir Kinder nicht plemperten.» Die Milch hat die Bauernfamilie damals selber verarbeitet. Vater Graf lieferte jeweils zweimal in der Woche den Schmalz (Butter) mit dem Töff in der Region aus. Manchmal nahm er sein Töchterchen Hanni auf dem Sozius mit auf einen Ausflug über Pässe. Sonst aber mussten die Kinder laufen, obwohl der Schulweg weit war.
Heute ist Büschele mein schönstes Hobby.
Erst in der vierten Klasse bekam Hanni zu Weihnachten ihr erstes Fahrrad. Nicht mehr ganz neu, erinnert sich die Seniorin, doch fahrtüchtig, sodass sie den rund 45-minütigen Schulweg wesentlich schneller meistern konnte. Etwas getrübt wurde die Freude über das Geschenk, als das Appenzellerland am nächsten Weihnachtstag tief verschneit war. So musste die Viertklässlerin ihre ersten Fahrversuche auf dem Velo verschieben. «Als wir Kinder waren, konnten wir bei guten Schneeverhältnissen mit dem Schlitten zur Schule. Damals hatte es im Winter kaum Autos auf der Strasse. Es wurde noch nicht gesalzen, nur auf den Radspuren etwas gekiest. So hatten wir eine herrliche Schlittenfahrt hinab ins Dorf.»
Im Appenzellerland geblieben
Hanni Graf ist eine echte Appenzellerin. Sie konnte es sich kaum vorstellen, jemals ihre Heimat zu verlassen. Zu sehr hätte sie Heimweh gehabt, auch wenn sie nur wenige Kilometer entfernt, zum Beispiel ins Rheintal oder Bündnerland, ziehen müsste. So war das junge Mädchen doppelt glücklich, als sie an einer Wochenendveranstaltung für Bauernsöhne und -töchter einen «Häädler» kennenlernte. Die hübsche und fröhliche Hanni war dem jungen Mann gleich ins Auge gestochen. Bald funkte es zwischen den beiden. Im Appenzellerland fielen dicke Schneeflocken am Tag, bevor der 27-jährige Emil seine 21-jährige Braut am 20. September 1962 zum Altar führte. So fuhren die Hochzeitsgäste mit der Kutsche durch das in Nebel gebettete Appenzellerland zur Kirche nach Bühler. Bis am Nachmittag setzte sich die Sonne durch, und so wurde es für das Hochzeitspaar ein wundervoller und unvergesslicher Tag. Die junge Frau Graf-Graf war auch deshalb glücklich, weil sie mit dem Umzug auf den Betrieb ihres Manns nach Heiden ihren geliebten Heimatkanton nicht verlassen musste. Ausserdem musste sie sich an keinen neuen Namen gewöhnen, sondern konnte ihren Mädchennamen quasi doppelt genäht weitertragen.
Familienfrau und Bäuerin
Am Anfang unterstützten die Eltern ihren Sohn und die Schwiegertochter bei den Arbeiten auf dem Hof, überliessen ihnen aber das Wohnhaus und zogen ins Heimetli etwa 15 Gehminuten entfernt. Die Seniorbäuerin vermietete in den Sommermonaten weiterhin einige Zimmer und einen Teil der Küche an Kurgäste, vor allem Familien mit Kindern, denn Heiden war damals schon gefragt als Ferienort. Erst als sie 1966 starb und der Schwiegervater zu ihnen zog, hatten sie das ganze Haus für sich. Sie brauchten den Platz auch, denn die Familie vergrösserte sich, als zuerst Annemarie, dann Barbara, Johannes und als Jüngster Bernhard auf die Welt kamen. «Ich war gerne im Stall. Während Emil im Winter viele Wochen mit einem Kameraden in den Wald zum Holzen ging, übernahm ich am Vesper das Füttern der Kühe und Rinder. So war ich fertig, wenn er vom Wald heimkam. Dann konnte ich ihm beim Melken helfen und wir hatten früher Feierabend. Wir hatten erst ab 1974 eine Melkmaschine. Das war dann wirklich eine Entlastung im Stall», erzählt die Altbäuerin.
Fast bis ins Pensionsalter, nachdem sie ihr Heimwesen verpachtet hatten, gab es für Hanni und Emil Graf keine gemeinsamen Ferien. «Wir vermissten es auch nicht. Aber im Frühling 1984 durfte ich mit den Appenzeller Landfrauen eine Woche mit dem Car nach Holland. Das erste Mal gemeinsam Ferien machten wir erst 40 Jahre nach unserer Hochzeit: eine Woche im Bündnerland. Danach bin ich erst wieder verreist, nachdem mein Mann gestorben ist.»
Im Kreise der Familie
Heute geniesst es die immer noch rüstige Seniorin, wenn sie zum Beispiel mit den Landfrauen oder einer Wandergruppe ein paar Tage Ferien, ein Wochenende hat oder einen schönen Tagesausflug machen kann. Mit dem GA ist sie oft unterwegs in der ganzen Schweiz. Sie hat noch so einige Reisepläne, die sie sich erfüllen möchte. Highlights im Alltag von Hanni Graf sind auch, wenn ihre Familie, ihre vier Kinder, neun Enkelkinder und zwei Urenkel, sie besuchen oder sie bei einem Anlass dabei sein kann, wenn ihr jüngster Sohn mit seinen drei Kindern als Ländlerkapelle Echo vor dä Schitterbiig aufspielt.