Ein Unterschlupf im Niemandsland

Im Rahmen der Sofortmassnahmen Herdenschutz fertigte das Landwirtschaftliche Zentrum St. Gallen mobile Hirtenhütten an, die auf Anfrage und bei Bedarf für entlegene Alpweiden angefordert werden können. Das erste Modell dieser Hütte steht den zweiten Sommer auf der Alp Valtüsch im Weisstannental.

Schafbesitzer Markus Eggenberger (links) und Hirt Daniel Siegenthaler vor der mobilen Hütte, die dem Hirten Unterschlupf bietet.
Schafbesitzer Markus Eggenberger (links) und Hirt Daniel Siegenthaler vor der mobilen Hütte, die dem Hirten Unterschlupf bietet.

Wer sich als Hirt auf Valtüsch verdingt, der weiss, dass er den Sommer weitab vom Schuss verbringt. Die Alp zuhinterst im Weisstannental ist nur zu Fuss zugänglich. Es ist ein abenteuerlicher Weg, vorbei an der Alp Rappenloch, wo die ersten Herdenschutzhunde bellen, über Unterlavtina bis hin zu den Batöni-Wasserfällen. Auf dem Weg liegen riesige Felsbrocken, die von den Naturgewalten, die hier herrschen, zeugen. An einer Stelle hat der Bergbach Teile des Wegs mitgerissen. Nach der Querung der wackeligen Hängebrücke, die im Sommer 2018 eingeweiht wurde, geht es steil die Felsen hinauf. Wer es nicht selbst mitgemacht hat, kann nur erahnen, wie herausfordernd es ist, rund 650 Schafe und 130 Rinder im Frühling heil den Berg hinaufzubekommen und im Herbst dann ebenso sicher wieder nach Hause.

Hirt Sigi mit einem der Herdenschutzhunde. Die Wolfsangriffe in dieser Saison waren zahlreich.
Hirt Sigi mit einem der Herdenschutzhunde. Die Wolfsangriffe in dieser Saison waren zahlreich.

Alpabfahrt steht bevor

Hirt Daniel Siegenthaler aus Wuppenau, der Sigi gerufen wird, und Markus Eggenberger aus Flawil, der Eigentümer der rund 650 Schafe, die den Sommer auf Valtüsch verbringen, warten bei den stattlichen Alpgebäuden mitten auf dem imposanten Hochplateau. Jetzt, wenige Tage vor dem Alpabtrieb, befindet sich die Schafherde da, wo sie den Sommer startete, nicht weit von der Haupthütte entfernt. Auch hier im Einsatz drei grosse Herdenschutzhunde, die auf ihre wolligen Kameraden aufpassen. Valtüsch ist Wolfsgebiet. Zwei gerissene Schafe während des Alpsommers 2023 sind in der offiziellen Statistik des Amts für Natur, Jagd und Fischerei des Kantons St. Gallen verbucht. Am grossen Holztisch sitzend, hier funktioniert das Mobilfunknetz, regelt Markus Eggenberger einige organisatorische Details für die bevorstehende Alpentladung.

Der Weg zur mobilen Hirtenhütte führt direkt durch die grasenden Schafe. Die Herdenschutzhunde begrüssen Hirt Sigi und ihren Besitzer Markus Eggenberger und wenden sich dann wieder den Schafen zu. Wer sich ohne Begleitung eines Verantwortlichen durch die Herde traut, der dürfte es nicht weit schaffen. Aus gutem Grund sind auf allen Wegen, die nach Valtüsch führen, entsprechende Hinweistafeln zum Umgang mit Herdenschutzhunden postiert.

Der Weg auf die Alp ist abenteuerlich. Nach der Querung der wackeligen Hängebrücke geht es steil die Felsen hinauf.
Der Weg auf die Alp ist abenteuerlich. Nach der Querung der wackeligen Hängebrücke geht es steil die Felsen hinauf.

Angriffe von Wölfen

Nach einem wackeren Fussmarsch ins Gebiet Piltschina zeigt Markus Eggenberger auf das schmucke Holzhüttchen in einer kleinen Senke: «Das ist sie, die mobile Hirtenhütte.» Hirt Sigi verbrachte mehrere Wochen mit seinen Schafen in diesem Talkessel, der direkt ans Calfeisental grenzt. «Hier fanden meine Schafe reichlich Futter.» Die mobile Hütte leistete ihm während dieser Zeit wertvolle Dienste, damit er nicht jeden Abend den weiten Marsch zurück zur Haupthütte unter die Füsse nehmen musste. «Gerade wenn der Wolf präsent war, wollte ich meine Schafe nicht alleine lassen, Nachtpferch hin oder her.» Wie er da so vor der Hütte sitzt und mit präzisen Gesten die Wege des Wolfs beim Angriff auf die Schafherde schildert, spürt man, dass die Erlebnisse Hirt Sigi noch in den Knochen sitzen. Zwei Mal habe er tagsüber Wolfsangriffe beobachtet. Beide Male hätten glücklicherweise seine Herdenschutzhunde richtig reagiert und das Raubtier vertrieben. Einmal sei es richtig knapp

Gerade wenn der Wolf präsent war, wollte ich die Schafe nicht alleine lassen.

gewesen, wegen des garstigen Wetters habe nur ein Hund den Angreifer entdeckt beziehungsweise Witterung aufgenommen und dann auch allein vertrieben. Beim zweiten Mal habe der Wolf plötzlich eine grössere Gruppe Schafe eine steile Bergflanke runtergetrieben, ehe die Herdenschutzhunde hätten eingreifen können. Auch hier sei die Sache gut ausgegangen. Hirt Sigi erzählt, wie er an diesem Tag während mehrerer Stunden die versprengten Schafe aus verschiedenen Bergflanken wieder zusammentreiben musste. «Ein richtiges Zusammenkratzen war das.» Die Hunde waren nach diesen Erlebnissen etwa eine Woche äusserst sensibel, sehr aufmerksam und kompromisslos im Beschützermodus.

«Gerade an solchen Tagen oder bei Schneewetter war die mobile Hütte eine super Sache. Man kann sich aufwärmen, ist etwas weg vom Wind oder kann sich über Mittag auch mal ein kurzes Nickerchen gönnen, wenn die Luft rein ist und die Schafe ebenfalls ruhen», so Hirt Sigi. Dass die Hütte über kein fliessendes Wasser verfügt, wusste er und hat sich entsprechend eingerichtet. Er findet nur lobende Worte für das «Hüttli». Sein Border Collie macht es sich derweil unter dem Kajütenbett gemütlich.

Wenige Tage vor dem Alpabtrieb befindet sich die Schafherde da, wie sie den Sommer startete, nicht weit von der Haupthütte entfernt.
Wenige Tage vor dem Alpabtrieb befindet sich die Schafherde da, wie sie den Sommer startete, nicht weit von der Haupthütte entfernt.

Markus Eggenberger hofft, dass die Hütte auch im nächsten Jahr wieder auf die Alp geflogen wird. «Wir können sie unter den gegenwärtigen Umständen mit ständiger Wolfspräsenz gut gebrauchen. Es ist wichtig, den Hirten gute Rahmenbedingungen zu bieten, es gibt auch so noch genügend Herausforderungen, gerade auf der psychischen Ebene. Da ist ein Rückzugsort wie die mobile Hirtenhütte viel wert.» Einzig die Heizung wurde etwas modifiziert, Markus Eggenberger hat ein Öfeli organisiert. «Die vorgesehene Gasheizung lässt sich nicht über längere Zeit einsetzen – da wird die Luft dünn in der Hütte, man muss ein Fenster öffnen und dann wird’s wieder ungemütlich.»

Jetzt, da die Schafe nicht mehr in dieser Gegend weiden, hat Hirt Sigi das «Hüttli» bereits wieder aufgeräumt, den Boden gewischt, das Bettzeug gewaschen. Die Hütte ist bereit für den Rückflug ins Winterquartier nach Salez.

Markus Eggenberger und Hirt Sigi besprechen die bevorstehende Alpabfahrt.
Markus Eggenberger und Hirt Sigi besprechen die bevorstehende Alpabfahrt.

Ein gutes Gefühl

Es herrscht allgemeine Aufbruchstimmung auf Valtüsch. Vom Grat aus, wo Markus Eggenberger und Hirt Sigi den Blick über die weitläufigen Schafweiden schweifen lassen, ist zu erkennen, wie auch die Rinder von den höheren, weit entfernteren Weiden Richtung Zentrum der Alp getrieben werden. «Es ist ein gutes Gefühl, wenn man nirgendwo mehr ein Glöggli hört und weiss, dass man alle Schafe beisammen hat», meint Hirt Sigi, ehe er sich zusammen mit Markus Eggenberger wieder Richtung Haupthütte auf den Weg macht. Es war sein erster Alpsommer. Wie es scheint, hat es ihm so richtig den «Ärmel inegnoh» mit dem Älplerleben.

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