Interview mit Gisela Perren zum Thema Wolfsstress

Gisela Perren-Klingler ist spezialisiert auf Psychotraumata. Im Interview äussert sie sich über die psychische Belastung im Zusammenhang mit Wolfsrissen. Sie erklärt, was diese im Körper der Tierhalter und -betreuer auslösen und was unternommen werden kann, um dem entgegenzuwirken.

Gisela Perren-Klingler, Fachärztin für Psychiatrie, weiss, was nach Wolfsrissen helfen kann. Bild: zVg.
Gisela Perren-Klingler, Fachärztin für Psychiatrie, weiss, was nach Wolfsrissen helfen kann. Bild: zVg.

Für Älpler und Viehbesitzer ist es schwer zu ertragen, wenn ihre Tiere von einem Wolf gerissen werden. Was geht in ihnen vor?

Gisela Perren-Klingler: Diese Menschen erleiden in solchen Momenten einen grossen Stress. Vielleicht rechneten sie im Hinterkopf mit einer ähnlichen Situation. Doch die Realität überfordert. Das Herz beginnt zu rasen, man zittert und atmet schwer, man ist nur noch auf das fokussiert, was vor einem liegt, sei es ein Rind, Schaf oder sonst etwas. Das ist eine typische Stressreaktion. Stress rettet uns in der Gefahr. Doch im Fall eines Wolfsrisses ist die Gefahr vorüber. In solchen Momenten ist Stress nicht mehr sinnvoll, sondern er schadet.

Weshalb schadet dieser Stress?

Perren-Klingler: Wir können nur noch schlecht normale Gedanken fassen. Von der Körperwahrnehmung her ist es vergleichbar mit Panik und Angst. Auch da hat man Herzklopfen, man zittert und schwitzt. Doch es ist keine Angst, sondern Stress. So reagiert jeder Körper, der vor etwas ungewohnt Schrecklichem steht. Im Fall Wolf sind solche Ereignisse leider zwar nicht mehr ganz so ungewohnt, doch immer noch schrecklich. Hinzu kommt, dass die Betroffenen ihre eigenen liebgewonnenen Tiere vorfinden. Wichtig also zu wissen: Von Stress Betroffene «spinnen» nicht, sie reagieren normal.

Wie definiert man Stress aus medizinischer Sicht?

Perren-Klingler: Wenn Gefahr droht, tritt das andrenergene System in Aktion. Was bedeutet, dass Adrenalin, das in verschiedenen Hirnkernen und im peripheren Sympathikus-Nervensystem produziert wird, ausgeschüttet wird.

Wie steht es um die Gefühle?

Perren-Klingler: Solange man Stress hat, spürt man keine Gefühle; erst später wird man von den Gefühlen überwältigt. Was bedeutet, dass man immer noch nicht gut funktionieren kann. Wer vor Wut (auf den Wolf, die Behörden, die Eidgenossenschaft etc.) ausser sich ist, ist mit niemandem mehr vernünftig. Meist entlädt sich die Wut bei den Nächsten, die zufällig in der Nähe sind. Diese werden dann beschimpft. Weitere Gefühle, die hinzukommen, sind Trauer und Angst.

Was kann man dagegen tun?

Perren-Klingler: Gegen Stress und seine Folgen helfen vier Massnahmen: schnaufen, Wasser trinken, viel schlafen und körperliche Betätigung.

Das macht neugierig. Wie atmet man in Stressmomenten gegen den Stress?

Perren-Klingler: Am besten, man legt einen Stopp ein nach dem Einatmen. Dann wird die Luft, wie durch ein Röhrlein, während fünf Sekunden ausgeblasen. Die Sekunden müssen dabei bewusst gezählt werden. Fünf, vier, drei, zwei, eins. Es folgt ein langsames Einatmen (ebenfalls fünf Sekunden, eins, zwei, drei, vier, fünf – stopp). Nur mit dem Brustkorb und nicht in den Bauch atmen. Der Ablauf beginnt wieder von vorne. Das Ganze wird während zehn Minuten wiederholt.

Und das soll helfen?

Perren-Klingler: Diese Atmung bringt Sicherheit und Ruhe. Sie beruhigt das andrenerge System. Sie senkt auch den Blut-PH-Wert und lässt so die Gedanken wieder langsamer und klarer werden. Ich empfehle nebst den Akutmomenten, drei Mal täglich eine Schnaufsequenz einzuplanen, um das Atmen zu trainieren. Wer geübt ist, kann anstatt des bewussten Zählens auch ein «Gegrüsst seist du Maria» beten. Dieses hat eine optimale Länge. Genau in der Mitte folgt der Wechsel vom Einatmen zum Ausatmen. Natürlich geht es auch mit einem Psalm, einem Mantra oder einem Gedicht, je nach Vorlieben der einzelnen Personen. Das gibt Sicherheit und Geborgenheit mitten im Wolfsstress.

Grundsätzlich ist Stress positiv. Er hilft uns zu überleben.

Wofür hilft die körperliche Betätigung?

Perren-Klingler: Erhöhter Puls, Schwitzen, schnell atmen und Herzklopfen – das sind alles Zeichen, die wir bei Stress, aber auch beim Sporttreiben entwickeln. Es gilt, sich zu überlisten und den Körper ein, zwei Mal pro Woche für 40 Minuten daran zu erinnern, dass er diese Stresszeichen auch ohne Gedanken an den Wolf produzieren kann, und das sogar mit Spass. Wer nicht gerne Sport treibt, kann auch zügig laufen oder Holz hacken.

Wie steht es mit dem Trinken?

Perren-Klingler: Viel trinken ist in diesem Fall besonders wichtig. Wobei ich an Wasser oder Tee appelliere, um die Stresshormone auszuschwemmen. Alkohol gilt es, infolge Suchtgefahr, zu meiden.

Sie raten auch von Medikamenten ab. Weshalb?

Perren-Klingler: Auch sie können süchtig machen. Seien es Alkohol oder Medikamente – beide führen zu einer schnellen Betäubung von Stress. Der Stress ist aber nicht nachhaltig gelöst. Er kommt wieder, in kürzeren Intervallen. Erneut werden Medikamente oder Alkohol konsumiert. Ein Teufelskreis beginnt.

Wie kann das Umfeld Betroffenen helfen?

Perren-Klingler: Leider wird immer behauptet, dass darüber reden hilft. Das muss ich klar dementieren. Ich appelliere, dass man Betroffene zu einem Spaziergang einlädt (körperliche Betätigung). Vielleicht ergibt sich ja dabei die Gelegenheit, bei einer Pause im Restaurant ein Glas Wasser oder Tee (Wasser trinken) zu konsumieren. Gar oft fällt das Gespräch auf Geschehenes. Dann darf man ruhig darauf hinweisen, dass es da eine Atemtechnik gibt, die hilft, gegen den Stress anzugehen, aber auch an die Freunde mit den Tieren zu denken.

Es gibt Älpler und Viehbesitzer, die werden nach Wolfsrissen regelrecht von Alpträumen eingeholt.

Perren-Klingler: Das ist eine verständliche Reaktion des Hirns, die nach so einem Ereignis, so banal das klingt, normal ist. Auch in diesen Fällen hilft, fünf Sekunden ausatmen, fünf Sekunden einatmen, eine Sekunde den Atem halten und wieder von vorne beginnen. Vergessen Sie nicht, dass viel schlafen der vierte Punkt zur Stressbewältigung ist. Denn der Körper braucht Ruhe, um sich vom Stress zu erholen. Diese vier Punkte gelten auch bei Panikattacken. Kurz: bei jeglicher Form von Stressäusserung.

Hat Stress auch etwas Positives?

Perren-Klingler: Grundsätzlich ist Stress positiv. Er hilft uns zu überleben. Gehen wir zurück in eine Zeit, als wir noch Jäger und Sammler waren. Stand damals plötzlich ein Mammut vor uns, mussten wir reagieren. Es galt, innert Bruchteilen von Sekunden zu entscheiden: kämpfen oder fliehen. Also produzierte unser Körper Stresshormone. Unser Organismus befindet sich in diesem Zustand in Alarmbereitschaft. Stress hat, richtig dosiert, also durchaus auch Vorteile (z. B. auch bei Examen).

Hintergrund zur Interviewten

Gisela Perren-Klingler aus Basel ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie und Hypnotherapeutin. Zudem ist sie Trainerin in Psychosozialer Notfallversorgung (PSNV) und Hypno-Psychotherapie für Trauma-Patienten im In- und Ausland, besonders in Lateinamerika. Bis 2008 führte sie eine eigene Praxis im Wallis. Weiter ist sie Autorin verschiedener Fachbücher. bas.

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