Aufbruch in den Wilden Westen
1994 wagte die Familie Wittwer aus dem bernischen Scharnachtal den Sprung nach Kanada. Sie erwarb 270 Hektaren Land, auf dem sie ihre Farm aufbaute. Heute betreibt sie erfolgreich die W Diamond Ranch in Telkwa in British Columbia nach regenerativen Prinzipien.
Plötzlich ging alles schnell. Es war Juli 1993, und nur eine Woche nachdem die Familie Wittwer ihre Bewerbungsunterlagen bei der kanadischen Migrationsbehörde eingereicht hatte, erhielt sie einen Anruf. Am Apparat war die kanadische Botschaft in Bern, die wegen Budgetkürzungen bald geschlossen werden sollte. Da ihnen das Projekt der Familie Wittwer gut gefalle, könnten sie den Antrag bei sofortiger Bezahlung gleich bearbeiten.
So waren Wittwers rasch unterwegs zum Gespräch mit dem kanadischen Botschafter und Anfang September hatten sie die Aufenthaltsbewilligung. Von diesem Tempo des Einwanderungsverfahrens können Einwanderungswillige in Kanada heute nur träumen.
«Wir haben den Entscheid, auszuwandern, als Familie getroffen. Berge mussten da sein, sonst wäre es für mich schwierig gewesen. Es war nicht unbedingt leicht. Es war aber auch nicht schwierig. Wir haben einen Entscheid gefällt. Für uns ein logischer Schritt», sagt Eugen Wittwer.
Seine Auswanderergeschichte ist keine Einmanngeschichte, sondern jene eines ganzen Familienclans. Es ist eine Erfolgsgeschichte, geprägt von Veränderungen, Herausforderungen und stetigem Lernen. Mit dabei: die Eltern Alfred und Ursula Wittwer, die Geschwister Manfred, Marlies und Eugen mit Ehefrau Irene und ihren zwei Kindern.
«Als wir gekommen sind, konnten wir kein Wort Englisch. Kein einziges Wort. Wir haben es aber schnell gelernt. Die Maschinen waren anders, die Tiere, der Umgang mit den Wildtieren. Wir mussten vieles neu lernen», erklärt Eugen Wittwer.
Keine Zukunft in der Schweiz
Angefangen hat alles auf der Alp Dürrenberg im Kandertal. Dort, wo Eugen Wittwer von klein auf seine Sommer verbrachte. Sein Vater betrieb einen Alpbetrieb mit Kühen, Rindern, Ziegen und Schafen. Am Tisch sassen immer viele Leute, die Bauern der Genossenschaft und Touristen. Als Eugen Wittwer 14 Jahre alt war, konnte sein Vater ein kleines Baugeschäft übernehmen.
Die enge Bindung von Eugen Wittwer zur Landwirtschaft blieb auch bestehen, als er die Lehre zum Maschinenmechaniker machte. Nach seiner Ausbildung kehrte er sofort zum Familienbetrieb zurück, um dort zu arbeiten. Einem Aufruf von Pro Specia Rara folgend begannen Wittwers als erste Bauern in der Schweiz mit der Zucht von Hinterwälder-Kühen. Da sie nur wenig Land besassen, mussten sie zusätzliches Land pachten.
Das Kanada-Fieber schlug zu
Die Wittwer-Familie hatte Schwierigkeiten, passendes Land in der Schweiz zu finden. Deshalb reisten sie in andere Länder, um sich dort Grundstücke anzuschauen. Sie besichtigten unter anderem einige Betriebe in Frankreich, aber die Kultur gefiel ihnen nicht. «Wir haben auch in der Schweiz geschaut. Wir waren aber immer unsicher, ob das dann finanziell auch reichen würde», erklärt Eugen Wittwer.
1985 heirateten Eugen und Irene Wittwer. Die Hochzeitsreise führte sie nach Kanada, wo sie vom Kanada-Fieber gepackt wurden. Von da an besuchten auch die restlichen Familienmitglieder das riesige Land in Nordamerika.
Farm mit 270 Hektaren
Der Wunsch nach mehr Land und die Möglichkeit, eine Farm nach ihren eigenen Vorstellungen zu führen, beschäftigte Wittwers unaufhörlich. Daher traf die gesamte Familie Wittwer im Jahr 1992 gemeinsam die Entscheidung: Wir wandern nach Kanada, ins Bulkley Valley, aus.
«Als wir das Grundstück gekauft haben, haben wir das Land zu Weideland gemacht. Das wäre in der Schweiz nicht möglich gewesen. Wenn ich ein Farmgebäude baue, brauche ich auch heute noch keine Bewilligung. Wenn ich ein Haus baue, dann brauche ich zwar heute eine Bewilligung, aber damals war das nicht der Fall. Wir konnten einfach bauen.»
Nachdem die Familienmitglieder die dauerhafte Aufenthaltserlaubnis erhalten hatte, reisten sie, mit einigen Monaten Abstand, in Kanada ein. Sie kauften eine Farm mit einer Grösse von 270 Hektaren. Zu dieser gehört ein Pachtvertrag für 2000 Hektar Weideland. Um den Pachtvertrag zu behalten, mussten sie sofort Tiere kaufen und mit der Landwirtschaft beginnen.
«Als wir hier ankamen, konnten wir die anderen Bauern fragen. Sie haben uns erzählt, wie sie es machen. Sie haben nie über uns gesprochen, auch wenn wir vieles anders machten als sie. Wir haben unseren Kühen auch kleine Glocken angezogen.»
Es läuft nicht rund
Doch die Farm lief nicht von Anfang an und es erforderte einige Investitionen. Manfred und Eugen arbeiteten deshalb in der Forstwirtschaft. 2003 hatten sie 170 Mutterkühe und verkauften die Kälber. Mit diesen Einnahmen konnten sie die Kosten der Farm decken. Doch dann kam die BSE-Krise. Der Markt brach zusammen. Die Kälber warfen nur noch die Hälfte an Gewinn ab.
Wittwers mussten weiter auswärts arbeiten, um die Farm zu finanzieren. Diese Lage war für sie unbefriedigend und sie suchten nach Lösungen: «Wir sagten uns: Das macht doch keinen Sinn. Wir sind ein Bauernbetrieb, wir sollten doch wie ein Geschäft funktionieren. Entweder wir verlassen uns auf Subventionen oder wir bleiben unabhängig und schauen, dass wir den Betrieb selbst erhalten können. So haben wir dann die Stiere behalten und selbst gemetzget.»
Die Familie Wittwer begann mit der Direktvermarktung. Doch das Schlachten im Winter draussen bei eisiger Kälte (es kann bis zu minus 40 Grad Celsius werden) machte keinen Spass. Gemeinsam mit anderen Bauern gründete Eugen Wittwer deshalb eine Genossenschaft und baute ein Schlachthaus für die gemeinsame Nutzung. Die Familie begann nach und nach damit, ihre eigenen Tiere nicht nur zu schlachten, sondern das Fleisch auch weiterzuverarbeiten und zu verkaufen.
Regenerative Landwirtschaft
Heute weiden auf der W Diamond Ranch 80 Mutterkühe, 150 Rinder und drei Stiere. Nach wie vor bewirtschaftet die Familie Wittwer 270 Hektaren eigenes Land, 60 Hektaren privates Pachtland und rund 2000 Hektaren staatliches Pachtland, sogenanntes Crown Land.
Wittwers schlachten im Auftrag anderer Betriebe. Diese verarbeiten das Fleisch entweder selbst oder lassen es von Wittwers verarbeiten. So werden momentan jeden Tag rund 20 Tiere geschlachtet. Diese werden auf den lokalen Märkten – wobei lokal, in kanadischen Verhältnissen gedacht, einen Radius von etwa 300 Kilometern umfasst – verkauft. Die Direktvermarktung blüht und alle Familienmitglieder sind mehr als ausgelastet.
«Als wir gekommen sind, konnten wir kein Wort Englisch. Kein Einziges.»
Das stagnierende Schlachtgewicht seiner Tiere hat Eugen Wittwer dazu gebracht, sich verstärkt mit alternativen Möglichkeiten für das Futter zu beschäftigen. Nach erfolgreicher Umstellung des Weidemanagements produziert die W Diamond Ranch seit 2019 nach den Prinzipien der regenerativen Landwirtschaft. So ist der Boden das wertvollste Kapital und die adaptive Beweidung und andere regenerative Praktiken führten zu einer nachhaltigen Gewichtszunahme bei den Tieren wie auch zu einer gesünderen Landwirtschaft, wie Eugen Wittwer sagt.
Fressverhalten änderte sich
«Nach dem BSE haben wir mit dem künstlichen Dünger aufgehört. Wir hatten kein Geld mehr. Wir mussten andere Lösungen finden. Seit wir nach den Prinzipien der regenerativen Landwirtschaft arbeiten, nutzen wir beispielsweise keine chemischen Mittel für die Parasitenprävention bei den Tieren mehr», erklärt der Farmer. «Reste davon gelangen mit dem Urin in den Boden. Das ist für die Bodenlebewesen eine Belastung und stört den Bodenhaushalt und somit die Bodengesundheit. Unsere Kühe können wählen, was sie fressen, Leguminosen, Kräuter, Büsche. Seit wir nicht mehr behandeln, sehen wir, wie sich das Fressverhalten unserer Tiere verändert hat.»
Ein grosser Familienverband
Inzwischen arbeiten alle Familienmitglieder auf der Farm gegen Lohn, auch Eugen Wittwer. Nach etlichen Jahren externer Arbeit ist er nun stolzer Farmmanager und leitet die Farm. Manfred kümmert sich um den Schlachtereibetrieb, während Marlies und Irene das Fleisch verpacken und verkaufen. Der Vater, mittlerweile 81 Jahre alt, hilft auch noch tatkräftig mit.
«Wir haben stets als Familie zusammengearbeitet und waren immer offen, anderen zu helfen. Das war in der Schweiz bereits so. Meine Mutter hatte manchmal 25 Leute am Tisch. Es hat sich eigentlich nicht viel geändert. Heute wohnt der Metzger, der bei uns arbeitet, auch hier», sagt Eugen Wittwer.
Die Familie Wittwer ist also auch nach vielen Jahrzehnten als geeinter Familienverband unterwegs, trifft gemeinsam alle wichtigen Entscheide und lebt in Gemeinschaft. Sie haben ihren Traum von mehr Land verwirklicht und fühlen sich mit Herz und Seele in Kanada zu Hause.
Die Farm im Bulkley Valley
Die Familie Wittwer lebt in Telkwa. Die Ortschaft befindet sich im Bulkley Valley im Nordwesten der kanadischen Provinz British Columbia. Es wird von der Hudson Bay Mountain Range und den Babine Mountains begrenzt. Lange Zeit war die Viehzucht ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, heute sind Forstwirtschaft, Bergbau und Tourismus die wichtigsten Wirtschaftszweige. mg.