Wenn die Seele leidet

Der Mensch denkt, fühlt und handelt. Wer sich psychisch gesund fühlt, ist seelisch und geistig ausgeglichen und kann die Herausforderungen des Lebens meistern. Verschiedene Einflüsse, Prägungen und Erfahrungen können seelische Störungen auslösen.

Das Gefühl, mit den Belastungen allein zu sein, zehrt zusätzlich.
Das Gefühl, mit den Belastungen allein zu sein, zehrt zusätzlich.

Therese (Name geändert) geht auf die 80 zu, wohnt in einer geräumigen Wohnung mit viel Licht und ist umgeben von Erinnerungen. Fotos, Bilder und Möbel, die sie von verstorbenen Angehörigen übernommen hat, sind allgegenwärtig. Seit 16 Jahren ist sie Witwe. Sie führt durch alle Räume, erklärt, was sie von wem erhalten hat, findet es nötig, etwas von der Familiengeschichte zu erzählen, damit das Gegenüber besser verstehen kann, wie es dazu kam, dass sie sich vor zehn Jahren Hilfe holen musste. «Ich lief auf den Felgen, konnte mich weder rückwärts- noch vorwärtsbewegen, war kraftlos und alles war zu viel», beschreibt sie den damaligen Zustand. Es war das Resultat ihres lebenslangen Kampfes. Ihr Kampf war lautlos gewesen. Sie hatte geschwiegen. Als Kind, als Ehefrau. Jetzt will sie das nicht mehr. Sie erzählt.

Klare Diagnose

«Es war mein Wunsch, in die Klinik zu gehen, weil ich nicht mehr weiterwusste», erzählt Therese. «In die Alterspsychiatrie», wie sie präzisiert. Der Aufenthalt schenkte ihr den nötigen Schonraum und die Gespräche mit der Psychologin und die verschiedenen Therapieformen liessen sie nach und nach wieder Boden unter den Füssen spüren. «Sie stellten bei mir eine Erschöpfungsdepression fest.» Ihr Ziel war, sich wieder in den Griff zu bekommen, zu Kraft zu kommen und sich selber zu spüren. Etwas, das sie verlernt hatte und in Wahrheit gar nie hatte leben dürfen. Als Kind wurde sie kaum wahrgenommen, gefragt wurde sie nicht, die Eltern bestimmten, was sie zu tun und zu lassen hatte. Sie war fremdbestimmt. Ihre einzige Möglichkeit war, sich unsichtbar zu machen, zu schweigen. «Die ganze Palette von Emotionen ist mir noch immer unbekannt. Ich bin realistisch, nehme es so, wie es ist, und mache das Beste daraus», stellt sie nüchtern fest.

Seele hielt sich still

Die Frau, die offen über ihr schwieriges Leben erzählt, das auch bei ihren Kindern Spuren hinterlassen hat, heiratete einen einige Jahre älteren Mann, der selber in seiner Kindheit Schlimmes erleben musste. Sie war Mutter und Hausfrau und machte das, was sie schon als Kind tat. Sie schwieg und schaute, dass sie nicht aneckte. Sie liess sich wieder fremdbestimmen. Sie blieb zu Hause, betreute ihre Kinder und später Angehörige. «Es war immer jemand da, um den ich mich kümmern musste.»

Psychische Belastungen rauben die Kraft für den Alltag.
Psychische Belastungen rauben die Kraft für den Alltag.

Um sich selbst kümmerte sie sich nicht, obwohl sie körperlich einige gesundheitliche Störungen annehmen musste. Ihre Seele hielt diesen Zustand aus, liess sich nicht zerstören. Sie half ihr, sich in bestimmten Situationen intuitiv richtig zu verhalten. Letztlich konnte sie sich auf ihre Eingebungen verlassen, der Beweis einer vorhandenen Lebenskraft.

Diese Lebenskraft nützte ihr auch in der Phase nach dem Klinikaufenthalt. Einen Tag nach dem langen und offenen Gespräch sendet Therese einen Spruch per Whatsapp: «Jedes Mal, wenn ich vergebe, zaubert der Geist der Liebe irgendjemandem auf der Welt ein Lächeln ins Gesicht. Und mein Licht breitet sich weiter aus.»

Endlich leben

«Seit ich in der Klinik war, lasse ich mich immer noch regelmässig begleiten. Zuerst war es wöchentlich, jetzt alle 14 Tage und wenn was dazwischenkommt, ist der Abstand auch mal grösser.» Der Grund ist, dass sie mit jemandem über spezifische Themen reden, sich selber reflektieren kann, dass sie jemand spiegelt, mitträgt und mit ihr Standortbestimmungen vornimmt. «Da hört jemand richtig zu», sagt Therese. Sie weiss, dass sie Teil des Schicksals ihrer Familie ist, dass sie stark geprägt ist, jahrelang einfach funktioniert hat und dann «aus dem System, aus dem Karren geflogen» ist, damit sie anfangen konnte, sich mit sich und dem eigenen Leben zu beschäftigen.

«Ich habe gegen innen gelebt, habe nichts nach aussen getragen», stellt sie fest. «Jetzt hole ich einiges nach, bewege mich unter Menschen, mache, was mir Freude macht, auch wenn es immer noch belastende Situationen gibt, die ich so akzeptiere.» Sie brauche einen roten Faden in ihrem Leben, und das seien vorläufig die Gespräche mit der Psychologin, sagt sie. «Ich mache Fortschritte. Eine Hilfe war und ist mein Glaube. Meine spirituelle Seite ist mir wichtig.» Therese ermutigt dazu, sich Unterstützung zu holen, wenn man nicht mehr weiterweiss. «Ich habe Menschen um mich herum beobachtet, die sich Hilfe geholt haben, und gesehen, wie sie wieder angefangen haben zu leben. Es lohnt sich.»

Stephan Goppel, Leitender Arzt Psychiatrie St. Gallen in Wil, gibt Auskunft

Psychische Belastungen und Krankheiten haben viele Namen und gemäss Umfragen fühlen sich viele Menschen psychisch angeschlagen. Ursachen dafür gibt es viele. Stephan Goppel von der Psychiatrie St. Gallen in Wil beantwortet Fragen.

Was sind erste Warnzeichen, dass eine psychische Belastung vorliegt?
Stephan Goppel: Psychische Belastung zeigt sich vor allem an der Stimmung, die jeder Mensch in sich spürt: Das Lebensgefühl ist nicht gut, man ist bedrückt oder hässig oder fühlt sich nicht wohl. Die Belastung zeigt sich auch in der Art, wie man denkt. Typisch sind negative Gedanken, Angst, Sorgen, Grübeln, Studieren über Unangenehmes. Zudem sind Energieniveau und Schaffenskraft vermindert. Man fühlt sich müde, erschöpft, ausgelaugt. Weitere Zeichen sind Schlafstörungen, Veränderungen des Körpergewichts und des Appetits und sozialer Rückzug.

Wie kann/soll man reagieren?
Goppel: Wenn man Hinweise auf eine psychische Belastung oder psychische Erkrankung sieht, ist der erste Schritt, das Gespräch zu suchen und diese Hinweise zu analysieren und zu besprechen. Wenn sich die Hinweise verdichten, ist es sinnvoll, Kontakt zu einer Fachperson aufzunehmen.

Wohin soll man sich wenden?
Goppel: Man soll sich an die niedergelassenen Psychiater und Psychologen wenden (zu finden im Internet). Auch die psychiatrischen Kliniken haben in der Regel ein ambulantes Angebot. Ansprechpartner ist auch die Hausärztin oder der Hausarzt; diese verfügen über ein Netzwerk von Spezialisten. Für Angehörige einer psychisch kranken Person gibt es an den meisten psychiatrischen Kliniken Angehörigensprechstunden.

Wie kann eine Therapie aussehen?
Goppel: Viele psychische Krankheiten kann man ambulant behandeln. Teilweise sind mehrere Behandlungstermine im Abstand von zwei bis vier Wochen ausreichend. Es gibt aber auch länger anhaltende Behandlungen. Wenn die Beschwerden schwer sind und lange anhalten, ist eine tagesklinische oder stationäre Behandlung in einer Klinik sinnvoll. Die Behandlung besteht aus psychotherapeutischen Verfahren, Medikamenten sowie unterstützenden Techniken, etwa Entspannungsverfahren, Bewegung, Kunsttherapie oder Beratung in sozialen Fragen. Vor einer Behandlung wird immer eine Ursachensuche gemacht und eine Diagnose gestellt.

Stephan Goppel beantwortet Fragen zu psychischen Belastungen.
Stephan Goppel beantwortet Fragen zu psychischen Belastungen.

Werden auch Angehörige begleitet?
Goppel: Angehörige werden von Fachleuten gerne einbezogen und auch begleitet. Ob und wie detailliert, entscheidet der Patient oder die Patientin. Es gibt psychiatrische Behandlungen, bei denen Patienten ausdrücklich wünschen, dass Angehörige nicht einbezogen werden. Dieser Wunsch wird immer berücksichtigt.

Was kann eine psychische Belastung auslösen?
Goppel: Auslöser sind einschneidende Ereignisse im Umfeld, zum Beispiel der plötzliche Abbruch von engen Beziehungen, Todesfälle, starker Stress, körperliche Erkrankungen, einschneidende Lebensveränderungen wie Kündigung der Berufstätigkeit, Berentung, Konfrontation mit Einsamkeit, Gewalt oder Tod. Es kommt aber auch vor, dass man keinen Auslöser erkennen kann.

Wie stark spielen die Erlebnisse in der Kindheit eine Rolle?
Goppel: Die Gegebenheiten und Erlebnisse in der Kindheit sind prägend: die Art der Beziehung zu den engen Vertrauenspersonen, der Umgang mit Gefühlen und den Grundbedürfnissen wie Nähe, Zuwendung, Wärme, Berührung, der Umgang mit Konflikten. Eine wichtige Rolle spielt auch, ob oder inwieweit man Gewalt, Krieg, Hunger und Durst oder andere für die menschlichen Grundbedürfnisse förderliche oder hemmende Umstände erlebt hat. Diese Erfahrungen in der Kindheit prägen den Umgang mit psychischer Belastung und spielen eine wichtige Rolle.

Welchen Einfluss hat die heutige vielfältige Gesellschaft mit ihren Einflüssen auf die Psyche?
Goppel: Durch die heutigen Lebensverhältnisse hier in Mitteleuropa besteht eine Tendenz – und somit auch ein gewisser Druck –, leistungsfähig, glücklich und zufrieden sein zu wollen oder zu müssen. Ausserdem werden die vielfältigen Möglichkeiten teilweise als Druck und Belastung wahrgenommen. Menschen fühlen sich heutzutage mehr gestresst als noch vor Jahrzehnten. Der Umgang mit psychischen Beschwerden, aber auch mit Gefühlen und persönlichen Zielen wandelt sich: Dem psychischen Wohlbefinden wird mehr Beachtung geschenkt als früher. Auch der Umgang mit psychischen Beschwerden ist offener geworden: Die Menschen holen sich schneller und eher Unterstützung, als dies früher der Fall war. Als Folge hat sich die Inanspruchnahme von psychiatrischer Behandlung deutlich erhöht.

Was trägt zu einer gesunden Psyche bei?
Goppel: Eine sinnstiftende Tätigkeit. Ein ausgewogenes Verhältnis aus Arbeit und Entspannung, Pause und Erholung. Bewegung und Naturerlebnisse. Ausgeglichene und gesunde Ernährung, ausgeglichenes Körpergewicht. Soziale Kontakte zu Vertrauenspersonen, mit denen auch unangenehme Gefühle und Gedanken ausgetauscht werden können. Spirituelle Erfahrungen und Religion. Die Fähigkeit und Möglichkeit, sich bei psychischen Problemen Hilfe zu holen. Gesunde und förderliche Lebensfaktoren, das heisst die Erfüllung der menschlichen Grundbedürfnisse, wie Sicherheit, Respekt, Verlässlichkeit, aber auch angemessene Wohnformen, genug Essen und Trinken. Interview: Cecilia Hess

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