25 Jahre nach Lothar: Wie der Orkan den Wald umbaute
Am Morgen des 26. Dezember 1999 fegte der Orkan Lothar über die Schweiz und warf rund 14 Millionen Kubikmeter Holz zu Boden, das Dreifache der jährlichen Holzschläge. Wie geht es dem Wald heute, 25 Jahre nach dem Ereignis?
Es war mit Abstand der heftigste Wintersturm in Europa und in der Schweiz, was die Waldschäden betrifft. Allein in der Schweiz warf er 14 Millionen Kubikmeter Holz um. Das ist fast das Dreifache der Menge Holz, die in der Schweiz jährlich geschlagen wird oder rund 3500 Lastwagenladungen.
Schlimm war das für die Wald- und Holzbranche. Bei den gefährlichen Aufräumarbeiten kamen 17 Waldbesitzer ums Leben, dazu zwei Personen in öffentlichen Forstbetrieben. Die Preise für Rundholz sanken aufgrund des Überangebots im Frühjahr 2000 um etwa ein Drittel.
Der Grossteil der Schäden entstand im Mittelland. Der Sturm wütete vor allem in Wäldern, die primär der Holzproduktion dienen, aber auch in stadtnahen Erholungswäldern. Der Schutzwald erlitt in der Zentralschweiz grosse Schäden, wo bis zu 25 Prozent der Schutzwälder zerstört waren.
In den folgenden Jahren, insbesondere nach dem Hitzejahr 2003, fügten Massenvermehrungen von Borkenkäfern noch einmal fast zwei Drittel so viel geschädigtes Holz hinzu wie der Sturm selbst.
Wie haben sich die Sturmflächen entwickelt?
Auf vielen grossen Windwurfflächen sind Bäume nachgewachsen, die heute im Mittel 10 bis 20 Meter hoch sind. Es gibt aber im Mittelland – je nach Bodeneigenschaften und Ausgangsvegetation – auch Flächen, wo Brombeeren oder Adlerfarn die jungen Bäume lange ausbremsten, oder wo nicht die gewünschten Baumarten, sondern beispielsweise Haseln gedeihen. Wo der Sturm in tieferen Lagen viele, zumeist gepflanzte Fichten umgeworfen hatte, sind von Natur aus zumeist klimarobustere, artenreiche Laubmischwälder entstanden.
Die Langfristbeobachtung förderte auch Überraschendes zu Tage: So fehlte häufig eine Pionierphase mit schnell wachsenden Baumarten wie Birke und Weiden. Das heisst, auf vielen Flächen wuchsen einfach die Nachkommen der Baumarten des umgeworfenen Waldes. Ausserdem blieb trotz Räumung auf den Windwurfflächen viel Totholz liegen, viel mehr, als in Schweizer Wäldern üblich ist. Das ist ein Plus für die Biodiversität, da Totholz ein wichtiger Lebensraum ist.
Lothar erschuf strukturreichere Wälder
Durch Lothar sind viele Wälder strukturreicher geworden, was neue Lebensräume für viele Tier- und Pflanzenarten schuf. Die Insektenvielfalt explodierte geradezu nach dem Sturm; dies zeigte eine 20 Jahre dauernde Studie der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL).
Diese positive Wirkung auf die Artenvielfalt nahm zwar allmählich wieder ab, als Sträucher und Bäume die Sturmflächen überwuchsen, hielt aber auch 20 Jahre nach Vivian und Lothar noch an. Dabei war die Anzahl von seltenen Arten auf Sturmflächen um ein Drittel höher als im unbeschädigten Wald. «Ungeräumte Sturmflächen sind ein herausragender Lebensraum für gefährdete Arten, insbesondere in späteren Zerfallsstadien», sagt Beat Wermelinger, der die Insektenvielfalt auf Sturmflächen während Jahrzehnten untersucht hat. Eine Studie der Schweizerischen Vogelwarte wies nach, dass Spechte von Lothar profitieren konnten, da sie sich von Insekten unter der Baumrinde oder in morschem Holz ernähren.
Welche Lehren hat man gezogen?
Wenn kräftige Stürme auf grossen Flächen Wälder umwerfen, folgt in fichtenreichen Beständen für einige Jahre fast immer eine starke Vermehrung von Borkenkäfern. Das betrifft zuerst den Randbereich der Sturmflächen, danach auch den angrenzenden, geschwächten Bestand. Müssen wichtige Waldfunktionen geschützt werden, gilt es besonders in Tieflagen, beschädigte Fichten so rasch wie möglich zu räumen. Sobald es wärmer wird, vermehren sich Borkenkäfer auf Fichten rasch. Allerdings reichen die Kapazitäten der Forstdienste bei einem derart grossen Sturm im Allgemeinen nicht aus, um die befallenen Fichten rechtzeitig zu entfernen. Deshalb konzentrieren sich die Bemühungen darauf, zu verhindern, dass die Käfer lebende Bäume befallen.
In Schutzwaldflächen kann es nach Stürmen sinnvoll sein, die am Boden liegenden Bäume zu entrinden und anschliessend liegen zu lassen, weil sie auf diese Weise mittelfristig Schutz vor Steinschlag und Lawinen schützen können.
Im Mittelland ist die Fichte nicht heimisch, die Forstwirtschaft hat sie für die Holzproduktion grossflächig angepflanzt. Sie ist nicht nur anfällig für Winterstürme und Borkenkäfer, sondern sie leidet auch unter Hitze und Trockenheit. Inzwischen wird sie dort deutlich seltener, wie dies das von der WSL durchgeführte Landesforstinventar LFI zeigt. Auf den Sturmflächen wuchsen stattdessen auf natürliche Weise viele Laubbaumarten nach, die als klimarobust gelten, wie Eichen, Kirschbaum, Berg- und Spitzahorn.
Ein Sturm ist, wie mehrere Studien belegen, eine Chance für die Artenvielfalt, beispielsweise von Insekten. Um diese zu erhalten und zu fördern, sollte nach einem Windwurf nur ein Teil der Flächen vom Sturmholz geräumt werden. Ein Mosaik von geräumten und ungeräumten Sturmflächen sowie intaktem Wald ist aus Sicht der Biodiversität am besten. Insbesondere altes Totholz ist ein wertvoller Lebensraum, der erst durch die Zunahme von Extremereignissen der letzten Jahre (Stürme, Trockenheit, Borkenkäfer) häufiger geworden ist.
Welche Baumarten werden heute vermehrt angepflanzt?
Da Laubbäume im Winter keine Blätter haben und so dem Wind weniger Angriffsfläche bieten, sind sie generell weniger anfällig für Winterstürme als Nadelbäume – ein Zusammenhang, der sich mit zunehmender Baumhöhe akzentuiert. Laubbäume tolerieren zudem Wärme und Trockenheit tendenziell besser. Die Schweizer Forstleute pflanzen heute im Vergleich zu vor 1990 generell viel weniger Bäume. Sie fördern vielmehr natürlich nachwachsende, erwünschte Arten, indem sie ihnen Licht schaffen und sie vor dem Wild schützen. Heute stehen allerdings auch wieder vermehrt gepflanzte, vor Verbiss geschützte Bäume in Waldöffnungen, um gewünschte Baumarten vor rasch aufkommenden Brombeeren und hungrigem Wild in die Zukunft zu retten.
Ist heute der Wald besser gewappnet für ein «Jahrhundert-Sturmereignis»?
Weil im Mittelland heute deutlich weniger Fichten und mehr Laubbäume stehen als zu Lothar-Zeiten: Ja. Die Borkenkäfer finden generell etwas weniger Bäume vor. Doch das wärmere Wetter und stärkerer Trockenheit dürften zu noch stärkeren Massenvermehrungen führen. Dies hat der letzte grosse Wintersturm Burglind 2018 und der starke Borkenkäferbefall von 2018 bis 2020 auf der Alpennordseite deutlich vor Augen geführt.
Winterstürme sind ein typisches Phänomen in West-, Nord- und Mitteleuropa. Danach vermehren sich jeweils die Borkenkäfer zuhauf, zuerst in gebrochenen, geworfenen oder geschwächten Fichten. Im Verlauf von Massenvermehrungen befallen sie häufig auch gesunde Fichten. Bei Wärme, die mehr Käfergenerationen ermöglicht, und Trockenheit, die die Fichten zusätzlich schwächt, explodieren die Käferzahlen und sinken erst mehrere Jahre später wieder. Dieses Muster zeigte sich bei Vivian 1990, dann bei Lothar 1999 und wieder beim Sturm Burglind 2018.
Es ist davon auszugehen, dass es früher oder später wieder zu grossen Stürmen kommt; stärkere Stürme als Lothar sind in Europa schwer vorstellbar, aber mit dem Klimawandel nicht ausgeschlossen. Aber die Waldfachleute sind heute besser darauf vorbereitet, dank den Erfahrungen von Vivian und Lothar, aber auch dank den langfristigen Forschungsprojekten der WSL