Die Krippe Sant’Antonio ist jedes Jahr ein magischer Anziehungspunkt
In der Casa Sant’Antonio in St. Gallen steht in der Weihnachtszeit eine besondere Krippe. Ihr Ursprung liegt im Heimweh von italienischen Arbeitern und im Saisonnierstatut. Diese Krippe «lebt». Jedes Jahr kommen neue Figuren dazu.
Tausende von Menschen kennen unterdessen die Krippe in der Casa Sant’Antonio an der Heimatstrasse 13 in St. Gallen. Seit zehn Jahren ist der Verein Jugend und Familie Heiligkreuz für die Krippe verantwortlich und zeigt sie der Öffentlichkeit. Jährlich sind Figuren dazugekommen. 30 Quadratmeter gross ist sie inzwischen. Italienische Gastarbeiter hatten 1985 begonnen, eine Krippe zu bauen. Sie verarbeiteten das, was ihnen zur Verfügung stand und was auf den Baustellen als Abfall anfiel: Sagex, Karton, Zementsäcke. Sie verarbeiteten darin auch ihr Heimweh, den Schmerz über die Trennung von ihren Familien und die soziale Kälte, die ihnen in der Schweiz entgegenschlug. Sie schufen Figuren, die sich bewegten. Neue Figuren kauften sie nach und nach in Italien dazu. Seit dem 8. Dezember ist die Krippe bis zum 6. Januar täglich von 15 bis 18 Uhr geöffnet, am 24. Dezember nur für Kinder und Erwachsene mit einer Behinderung.
Lebendige Szenerien
Es ist eine besondere Welt, in die Gross und Klein beim Besuch der Krippe eintauchen können. Ganz im Augenblick sein, schauen, staunen, entdecken, erkennen, Vertrautes sehen, Vertrautes hören und mit all den liebevoll hergestellten Figuren durch den Tag gehen. Viele Figuren tragen Kleider aus Stoff, andere sind aus Holz und farbig bemalt. Man kann ihnen bei der Arbeit zuschauen, sich bei ihren Tätigkeiten ausmalen, was sie miteinander reden, was in ihnen vorgeht, den Schalk ausmachen, der sich eingeschlichen hat, und selber lächeln.
Die Krippen tragen uns zu dem, was unsere Vorfahren glaubten.
Mit Licht und Musik wird ein Tag-und-Nacht-Zyklus inszeniert. Dieser dauert mehrere Minuten. Die Sonne geht auf, der Hahn kräht, die Menschen beginnen zu arbeiten. Sie hämmern, beschlagen den Esel, sägen Holz, fischen, flicken das Fischernetz, waschen am See die Wäsche, mahlen das Korn, besohlen die Schuhe, hacken im Garten, rühren im Topf, pflanzen oder scheren das Schaf. Der störrische Esel will nicht aufstehen, und als er es endlich doch tut, fällt sein Besitzer rückwärts zu Boden. Die Grossmutter verscheucht mit dem Besen zwei Mäuse, ein Kind versteckt sich.
Die Krippe lebt. Es ist eine Lebens- und Arbeitsgemeinschaft mit all ihren schönen und ihren Schattenseiten. Da sind auch der Säufer und seine verhärmte Frau, die von ihrer belasteten Ehe gezeichnet ist. Die Krippendarstellung stellt das Leben in den verschiedensten Facetten dar. So, wie es ist. Ohne Kitsch.
Unter Menschen geboren
Langsam wird es in der Krippe dunkel. Die Menschen legen ihre Arbeit nieder. In den Häusern geht das Licht an, Feuer flackern auf den Feldern, wo die Hirten wachen. Die Sterne erscheinen am Himmel – und mitten in der Nacht wird Jesus geboren. Das Kind schreit. Ein Mensch unter Menschen ist geboren.
Die Krippe ist vermutlich die letzte Schöpfung der christlichen Sakralkunst.
«Die Krippe ist vermutlich die letzte Schöpfung der christlichen Sakralkunst, welche die Menschen bis heute verstehen und lieben», sagt Peter Oberholzer, Präsident des Vereins Jugend und Familie Heiligkreuz. Vor zwei Jahren ging Oberholzer nach 26 Jahren als Gemeindeleiter der Pfarrei Heiligkreuz in St. Gallen in Pension. Seit zehn Jahren ist er zuständig für die Krippe in der Casa Sant’Antonio. Damals übernahm der Verein Jugend und Familie das Haus der ehemaligen Missione Cattolica Italiana und führt nun deren Anliegen, den Immigranten und Flüchtlingen bei der Suche nach einer neuen Heimat beizustehen, weiter. Das Zehn-Jahre-Jubiläum der Casa Sant’Antonio nahm Peter Oberholzer zum Anlass, eine Broschüre über die Krippe von italienischen Migranten zu erarbeiten. Beim Besuch der Krippe kann die farbige Broschüre ein neues Licht auf diese Darstellung werfen.
Unrühmliche Geschichte
«Der tiefe Glaube hinter Weihnachten: Gott wird ein sterblicher Mensch – einer von uns, der die Vergänglichkeit auf sich nimmt. Er nimmt an, was uns zu schaffen macht. Der Sohn Gottes teilt unser Menschsein. Er kriecht in unsere Haut. Er würdigt unsere Not und heilt sie im tiefsten Punkt. Er hebt uns aus unserem unbeständigen in sein göttliches Leben», erklärt er in der Broschüre. Die Broschüre hilft, die Krippe Sant’Antonio, die auch etwas mit der damaligen Schweizer Politik zu tun hat, aus einer anderen Perspektive zu sehen, sich Gedanken über das Menschsein und die Menschlichkeit zu machen, vielleicht auch, die eigene Rolle in der Welt zu reflektieren. In den 1960er-Jahren holte man Arbeitskräfte aus Italien. Auf Dauer sollten sie sich jedoch nicht niederlassen. Dafür sorgte das Saisonnierstatut. Ehepartner und Kinder durften nicht mitkommen. Man weiss von den versteckten Kindern in der Schweiz, die nicht zur Schule gingen und ihrer Entwicklung beraubt wurden. «Man rief Arbeitskräfte und es kamen Menschen», erinnert Peter Oberholzer an die Anklage von Max Frisch. «Die Krippe Sant’Antonio kann nicht isoliert von diesem sozialpolitischen Hintergrund betrachtet werden. Die Abschaffung des Saisonnierstatuts war das Ende eines langen und äusserst hart geführten politischen Kampfes in der Schweiz», erinnert der Krippen- und Geschichtshüter. Er weiss um die «Überfremdungsängste» und die mangelnde Gastfreundschaft. Vor diesem Hintergrund hatten die Saisonniers begonnen, eine Krippe zu bauen. Es war ihre Sehnsucht, miteinander Weihnachten zu feiern, die Botschaft von jener Nacht, die Licht und Hoffnung in die Welt brachte, greifbar zu machen, gemeinsam etwas zu gestalten, Heimat darzustellen, das Vermisste bildlich auszudrücken.
Mensch geworden
Peter Oberholzer verbindet als Theologe das Menschliche mit dem Göttlichen, deutet, erklärt, weist auf Zusammenhänge und Symbolik hin und benützt seine eigene Sprache. Er weiss um die Entstehung der Krippendarstellung. «Die Krippen tragen uns zu dem, was unsere Vorfahren glaubten. Sie lassen uns mehr vom Leben sehen als das, was dieses von sich aus zeigt. Gott, verschwiegen und umschwiegen, wird Mensch. Er wendet sich uns zu. Er tritt an uns heran. Er bleibt kein distanziertes Gegenüber, sondern verbindet sich mit uns, unserem Menschsein und unserer Geschichte. Obwohl wir Gott nicht begreifen können, leben wir in Beziehung mit ihm. Wir sind aufgefunden worden, wir können uns ihm überlassen. In seinem Kommen wird uns die Schönheit des Anfangs wiedergeschenkt.»