Ist die Arbeitszeit zweitrangig?

Durchschnittlich arbeitet ein landwirtschaftlicher Angestellter 55 Stunden pro Woche. Vor zwei Jahren reduzierte der Kanton St. Gallen die Wochenarbeitszeit auf 49,5 Stunden. Eine Herausforderung für Arbeitgeber, für Arbeitnehmer steigert sich dadurch die Attraktivität.

Der Kanton St. Gallen reduzierte die Wochenarbeitszeit in der Landwirtschaft. Eine Herausforderung für Arbeitgeber. Bild: zVg.
Der Kanton St. Gallen reduzierte die Wochenarbeitszeit in der Landwirtschaft. Eine Herausforderung für Arbeitgeber. Bild: zVg.

Im letzten Jahr waren im Kanton St. Gallen 10 412 Personen auf Landwirtschaftsbetrieben beschäftigt, schätzungsweise drei Viertel davon sind familieneigene Arbeitskräfte. Schweizweit sind knapp 20 000 Vollzeit- und rund 16 000 familienfremde Angestellte in einem Teilzeitpensum in der Landwirtschaft tätig. Für diese Personen gelten die Bestimmungen des kantonalen Normalarbeitsvertrags (NAV). So steht es in den Lohnrichtlinien für familienfremde Arbeitnehmende, die jährlich vom Schweizer Bauernverband (SBV), dem schweizerischen Bäuerinnen- und Landfrauenverband (SBLV) und der Arbeitsgemeinschaft der Berufsverbände landwirtschaftlicher Angestellter (Abla) ausgehandelt wird.

Flickenteppich in der Schweiz

Durch diese Regelung entsteht ein regelrechter Flickenteppich in der Schweiz. Spitzenreiter ist mit 57 Stunden pro Woche der Kanton Nidwalden, im Kanton Genf arbeiten landwirtschaftliche Angestellte mit 45 Stunden pro Woche am wenigsten. In den meisten Kantonen wird die für die Landwirtschaft übliche 55-Stunden-Woche verlangt.

«Eine schweizweit einheitliche Arbeitszeit ist schwierig umzusetzen. In viehstarken Kantonen wie Luzern braucht es mehr Stunden als beispielsweise in einem Ackerbaukanton», weiss Katrin Hürlimann, Geschäftsführerin der Abla. Die Begründung leuchtet ein. Doch reicht dieses Argument auch, wenn einem Angestellten erklärt werden muss, weshalb er zum selben Lohn bis zu zehn Stunden mehr arbeiten soll? Der Fachkräftemangel ist in der ganzen Branche spürbar. Überall werden Saisonarbeitende, Betriebshelfer oder Betriebsleitende gesucht. Katrin Hürlimann stellt die berechtigte Frage: «Wer erntet Früchte und Gemüse, wenn wir keine Angestellten mehr finden?» Sie weist darauf hin, dass neben der Arbeitszeit auch der Mindestlohn in der Branche tief ist. Für Angestellte gibt es vier Wochen Ferien und eine 5,5-Tage-Arbeitswoche. Da kann die Landwirtschaft nicht mit den Arbeitsbedingungen in der Industrie mithalten. Doch die Branche schläft nicht. Man weiss, dass man etwas machen muss. Bereits bei den letzten Lohnverhandlungen waren die fehlenden Arbeitskräfte ein Thema. 2021 ist der Kanton St. Gallen vorgeprescht und hat seine Arbeitszeit auf 49,5 Stunden pro Woche reduziert. Auf dieses Jahr folgte Luzern mit einer Reduktion, in den grossen Arbeitgeber-Kantonen Bern und Zürich will man die teils veralteten NAVs überarbeiten.

Frühzeitig kompensieren

Eine Stundenreduktion hat nicht nur finanziellen Einfluss auf die Betriebe, sondern zieht auch viele andere Änderungen nach sich. Sepp Gall, Geschäftsführer des landwirtschaftlichen Lehrbetriebverbundes SG, AI, AR und FL, hat sich in den letzten Jahren stark mit dem Thema auseinandergesetzt. Er empfiehlt eine Fünftagewoche mit 9,9 Stunden pro Arbeitstag. Das hat zur Folge, dass Lehrbetriebe von einer 5,5-Tage-Arbeitswoche umstellen müssen. Aus eigener Erfahrung weiss Sepp Gall: «Bei eingespielten Arbeitsabläufen ist dies nicht ganz einfach.» Um genügend Spielraum für die arbeitsintensiven Frühlings- und Sommermonate zu haben, sollten die Lernenden im Winter weniger Arbeitsstunden generieren, als dies die Sollstunden pro Monat vorsehen. Der Geschäftsführer sieht die Vor- und Nachteile der Stundenreduktion. Die Lernenden haben nun mehr Zeit für Hausaufgaben oder die Lerndokumentation. Gleichzeitig sind sie öfter abwesend vom Betrieb und das Risiko, dass sie einmalige Arbeiten verpassen, ist gestiegen: «Grundsätzlich entspricht die jetzige Situation des Kantons St. Gallen mit 49,5 Stunden aber nicht mehr der Realität eines selbstständigen Landwirts, der einen Betrieb führt. Dessen müssen wir uns bewusst sein», kritisiert Sepp Gall. Gemäss einer Umfrage des Bundesamts für Statistik arbeitet ein Betriebsleiter 67 Stunden pro Woche, eine Betriebsleiterin vier Stunden weniger. Katrin Hürlimann erwidert, dass zu berücksichtigen ist, dass Lernende, Praktikanten und andere landwirtschaftliche Angestellte einen anderen Status haben als Betriebsleitende: «Als Betriebsleiter bin ich selbstständiger Unternehmer, kann meine eigenen Ideen umsetzen und arbeite für mich. Das sind andere Voraussetzungen als diejenigen eines Arbeitnehmers.»

Katrin Hürlimann ist Geschäftsführerin Abla. Bild: zVg.
Katrin Hürlimann ist Geschäftsführerin Abla. Bild: zVg.

Arbeitszeit zweitrangig

Solange zwischenmenschlich zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer alles in Ordnung ist, spielt die Arbeitszeit eine untergeordnete Rolle. Darin sind sich Sepp Gall und Katrin Hürlimann einig. In Lehrverhältnissen gehören Diskussionen bezüglich der Arbeitszeit dazu, es ist Teil des Einstiegs in die Berufswelt. Gleichzeitig ist es zentral, dass die Rahmenbedingungen für alle Lernenden gleich sind und sich die Lehrbetriebe wie auch die Lernenden an Vereinbarungen halten. «Ich erwarte, dass sich die Lernenden auf den Lehrbetrieben um ihre Lehre bemühen und sich einsetzen, da sie sich für diese Lehre freiwillig entschieden haben», erklärt Sepp Gall. Betriebe mit wiederholten, starken Verstössen aufgrund der Arbeitszeit kennt er im Einzugsgebiet des Lehrbetriebsverbundes nicht. Die Reaktionen der Lehrmeister auf die Neuerung der 49,5-Stunden-Arbeitswoche waren unterschiedlich. Sepp Gall erinnert sich: «Vor allem Lehrmeister mit eigenen Kindern im Lehrlingsalter begrüssten die Änderung.» Geschätzt wird von den Lernenden, dass ihre Arbeitszeit nun dem Gewerbe etwas angeglichen ist und sie am Samstag nicht mehr arbeiten müssen. Die Landwirtschaft wurde dadurch für potenzielle Angestellte attraktiver und gegenüber anderen Branchen konkurrenzfähiger, wenn es um die Bewerbung von Angestellten geht.

Der Beruf boomt

Auch wenn die Arbeitsbedingungen in der Landwirtschaft nicht die rosigsten sind, boomt der Beruf. Seit Jahren steigt die jährliche Zahl an Auszubildenden in der Landwirtschaft. Am Berufs- und Weiterbildungszentrum Buchs Sargans bzbs Rheinhof lassen sich zurzeit 350 Lernende ausbilden. Sepp Gall zeigt einige Vorzüge des Berufs Landwirt auf: «Wir haben keine Fliessbandarbeit und keinen Arbeitsweg. Unser Beruf zeichnet sich durch viel Abwechslung aus.» Katrin Hürlimann arbeitete bis 2018 zu 100 Prozent am Zürcher Bezirksgericht. Heute hat sie zwei kleine Teilzeitpensen und ist auf dem Betrieb ihres Mannes und dessen Bruders engagiert. Auch sie betont: «Ich würde nicht mehr zurück, das ist mein Leben. Es ist nicht nur ein Job, man ist mit dem Herz dabei. Man darf mit den Händen arbeiten und so viel lernen.» Die engagierte Geschäftsführerin erklärt: «Würde man die Arbeitszeit kürzen und gleichzeitig den Mindestlohn erhöhen, dann haben kleine Betriebe keine Chance mehr, Angestellte zu finanzieren.» Eine Sackgasse? Katrin Hürlimann ist überzeugt: «Hauptproblem ist die Finanzierung. Landwirtinnen und Landwirte sollen für ihre Produkte die Preise erhalten, die diese auch wert sind. Die Detailhändler haben es in der Hand, ob wir anständige Löhne bezahlen können und eine Betriebsleiterfamilie auch mal ein bis zwei Wochen Ferien machen kann.»

Aufzeichnungspflicht

Gemäss kantonalem Normalarbeitsvertrag (NAV) ist der Arbeitgeber in der Pflicht, die Arbeitszeit seiner Angestellten zu erfassen. Einzelne Apps dienen dazu als Hilfe oder man verwaltet Tabellen über Excel, die direkt mit der Lohnabrechnung verknüpft werden können. Sehr einfach und effizient ist ein Kalender, der in der Umkleidegarderobe für alle gut sichtbar geführt wird. Ende Monat können die Stunden in der Lohnabrechnung deklariert werden, zusammen mit den bezogenen und noch offenen Frei- und Ferientagen. Somit kommt es weder für den Arbeitnehmer noch für den Arbeitgeber plötzlich zu bösen Überraschungen. Es empfiehlt sich, die Lohnabrechnung mit den Arbeitsstunden von Arbeitnehmenden visieren zu lassen. Somit wird bestätigt, dass die Angestellten einverstanden sind, und es können nicht nachträglich noch Stunden eingefordert werden. cbd.

 

Sepp Gall, Geschäftsführer landwirtschaftlicher Lehrbetriebsverbund SG, AI, AR und FL. Bild: Corina Blöchlinger-Dürst
Sepp Gall, Geschäftsführer landwirtschaftlicher Lehrbetriebsverbund SG, AI, AR und FL. Bild: Corina Blöchlinger-Dürst

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