Nachts unterwegs: Der Alltag eines Milchchauffeurs
Die Nächte in der Ostschweiz gehören Bratislav Stojanovic. Während die meisten Menschen schlafen, ist der erfahrene Milchchauffeur unterwegs, um Milch von Bauernhöfen zu den Käsereien und Milchhändlern zu bringen. Mit Präzision, moderner Technologie und viel Leidenschaft sorgt er dafür, dass die Milch stets pünktlich ankommt.
Es ist 18.30 Uhr, die Nacht hat eingesetzt. Der glatte Stahl des Tanklastwagens glitzert schwach im Scheinwerferlicht. Geübt schwingt sich Bratislav Stojanovic in die Fahrerkabine und startet mit seiner Tour. Der Motor des Lastwagens brummt gleichmässig während der Fahrt auf der nächtlichen Autobahn. Bald nach der Ausfahrt wird die Strasse enger, bevor sie in einen holprigen Zufahrtsweg mündet. Langsam rollt der Lastwagen in die Hofeinfahrt ein. Mit geübter Präzision manövriert ihn Bratislav rückwärts an die Milchkammer. Dann steigt er aus seiner Kabine und öffnet die hintere Ladeklappe, wo das Computersystem und die Absaugschläuche verstaut sind. Seine Hände, in dicken Arbeitshandschuhen, packen den blauen Absaugschlauch und verbinden ihn mit dem Ventil des Milchtanks. Das GPS hat den Standort längst registriert, sodass der Computer die Messung der Füllmenge übernimmt und dem entsprechenden Betrieb zuordnen kann. Im Hintergrund reflektieren im matten Scheinwerferlicht die weissen Siloballen, während das Surren der Milchpumpe die nächtliche Stille unterbricht.
Nacht für Nacht unterwegs
Während die Milch in den Tank fliesst, wirft Bratislav einen Blick über den Hof. Kein Mensch ist zu sehen. «Im Winter, wenn es früh dunkel ist, sind viele Landwirte um diese Zeit bereits fertig im Stall und daheim in der warmen Stube. Im Sommer ist um diese Zeit schon noch mehr los. Doch einige Bauern kommen, auch wenn es kalt und dunkel ist, regelmässig um hallo zu sagen oder für ein Schwätzchen. Ich schätze diese Kontakte sehr», sagt der Chauffeur, der seit elf Jahren für das Transportunternehmen Stieger aus Oberriet fährt. Er ist ein Mann der Nacht, einer, der dafür sorgt, dass die Milch von den Bauern der Region abgeholt wird und zuverlässig ihr Ziel erreicht – auch wenn die Welt um ihn herum längst schläft. Der 55-jährige Familienvater aus Feldkirch liebt seine nächtlichen Touren. Nicht nur, weil er dann tagsüber Zeit für seine beiden Kinder hat, sondern weil es auf den Strassen dann viel weniger hektisch ist als tagsüber. Nachdem er die Schläuche abgehängt und die Kontrollanzeige auf dem Display überprüft hat, steigt er wieder in seine Fahrerkabine, um seine Fahrt in der Dunkelheit der Nacht fortzusetzen. Vor ihm liegen viele Höfe, bis seine Schicht zu Ende ist.
Mit Milch geduscht
Ein Milchchauffeur muss nicht nur anspruchsvolle Fahrbedingungen mit Geschick und Souveränität meistern können, sondern auch in der Lage sein, moderne Technologien zu bedienen. Gleichzeitig sollte er das Metier und die Sprache der Bauern verstehen. «Die meisten Chauffeure, die Milch transportieren kommen aus der Landwirtschaft. Das erleichtert ihnen die Kommunikation und die Zusammenarbeit mit den Bauern», erzählt der gebürtige Serbe. «Auch ich habe bäuerliche Wurzeln: Zuhause, wo ich aufgewachsen bin, hatten wir immer Tiere zur Selbstversorgung.» Heute, nach vielen Jahren «vo Puur zu Puur» kennt er die Betriebe und die Strassen der Ostschweiz wie seine Westentasche. «Am Anfang musste ich mich auf den Weg und jeden einzelnen Arbeitsablauf konzentrieren. Trotzdem lief nicht immer alles glatt. Oft habe ich mich selbst mit Milch geduscht. Manchmal war ich schuld, manchmal funktionierte einfach etwas nicht richtig. Mit der Zeit wächst du in den Job hinein», sagt Bratislav, während er den Lastwagen sicher die kurvige Bergstrasse zum nächsten Betrieb steuert. «Von hier oben haben die Kühe eine einmalige Aussicht über das ganze Rheintal», bemerkt er und deutet auf das funkelnde Lichtermeer unten im Tal.
50’000 Liter Milch in einer Nacht
Die Arbeit ist anspruchsvoll und alles andere als eintönig. Nacht für Nacht ist Bratislav auf zwei unterschiedlichen Milchtouren unterwegs. Jede zweite Nacht wechseln sie sich ab und führen ihn von kleinen Bauernhöfen, die gerade mal 200 Liter abgeben, bis zu modernen Grossbetrieben mit über 6000 Litern Milch. Wo es möglich ist, spart er sich das zeitraubende Umpumpen und lädt die Milch direkt in den Anhänger. Am Ende einer Tour hat er auf 30 bis 35 Betrieben rund 50 000 Liter Milch eingesammelt, die er anschliessend an Käsereien und Milchhändler in der Ostschweiz liefert. Wenn alles gut läuft, ist er zwischen drei und fünf Uhr morgens fertig. «Ich liebe meine Arbeit», sagt Bratislav mit einem zufriedenen Lächeln. «Ausser wenn es regnet und dazu noch stark windet – dann wirds wirklich mühsam. Doch zum Glück passiert das nur selten», winkt er gleich ab, während er den leeren Tanklastwagen parkiert und schwungvoll aus der Fahrerkabine steigt.