Nepal – der Sandwich-Staat
In Nepal sind die Unterschiede zwischen städtischem und ländlichem Gebiet gross. Während sich in den Zentren Kathmandu und Pokhara bereits erste Läden mit westlichen Markenkleidern ansiedeln, sitzt man auf dem Land neben einer Ziege im Bus.
Nepal hat sich nach dem einschneidenden Erdbeben 2015 das Ziel gesetzt, bis in die 2030er-Jahre nicht mehr zu den Entwicklungsländern zu zählen, sondern zum Schwellenstaat zu werden. Die Herausforderungen, jenen Schritt zu schaffen, sind gross. Binnenländisch umschlossen von China, dem bevölkerungsreichsten, und Indien, dem zweitbevölkerungsreichsten Staat der Welt, befindet sich Nepal in einer diplomatisch herausfordernden Situation: Es muss mit beiden kulturell unterschiedlichen Nachbarstaaten gute Beziehungen pflegen und sich an deren Entwicklung orientieren. Es resultieren Veränderungen in Nepal, die sich auf einige Zentren und deren Eliten und nicht das gesamte Land konzentrieren. Typisch für Entwicklungsländer ist der Grossteil der nepalesischen Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig, um selbstversorgerisch das eigene Überleben zu sichern.
Wasserkraft und China
Für den Entwicklungsschritt, nicht mehr Entwicklungsland zu sein, wird primär auf Wasserkraft gesetzt. Nepal besitzt keine Bodenschätze, auch ist es landwirtschaftlich eher uninteressant für seine Nachbarn. Dafür befinden sich gigantische Wasserreservate in den unzähligen Gletschern im Himalaya. Diese Gletscher bewässern ganz Nepal und die Landstriche südlich davon, sprich Indien. Nepal ist das Wasserschloss des indischen Subkontinents: Viele Täler werden im Verlauf der kommenden fünf Jahre für Stauseen geflutet. Auf den abgelegenen Strassen in den nördlichen Bergregionen an der Grenze zu Tibet beziehungsweise China fahren vermehrt Zementlastwagen mit chinesischen Nummernschildern, die am Bau der vielen Wasserkraftwerke beteiligt sind. An den noch unfertigen Gebäuden der Kraftwerke prangen Schriftzeichen und Embleme des gigantischen nördlichen Nachbarn, der sich einen Teil der produzierten Energie einsteckt. Auf diesen Strassen sind bewaffnete nepalesische Militär- und Polizeikontrollen häufig. Zu gross ist das Spannungspotenzial mit China. Um Kraftwerke zu bauen, die die Möglichkeiten ausschöpfen, ist Nepal auf Nachbarindustrien angewiesen.
Viele Völker im Land
Über 100 Volksgruppen leben in Nepal. Die allermeisten traditionell ländlich und hinduistisch. Jedes Volk besitzt seine eigene Sprache und pflegt die eigenen Traditionen. Abseits von touristischen Wegen befindet man sich überraschend schnell derart abgelegen, dass die Menschen nur noch gebrochen Nepali sprechen, geschweige denn Englisch verstehen. Die Dörfer sind weitestgehend eigenständig und kommunal organisiert. Die Fassungen und Leitungen für die Brunnen im Dorf werden durch Eigeninitiative genossenschaftlich gebaut und unterhalten. Kinder helfen nachmittags nach der Schule mit dem Beil, die Ziege für das Abendessen zu schlachten. Der Reis wird eigenständig angebaut. Das Plumpsklo wird mit der Schaufel gegraben und aus einem Regenkanister mit einem Krug gespült. Erste Anzeichen der Digitalisierung machen aber sogar vor den abgelegensten Regionen nicht halt. Langsam, aber sicher halten Smartphones und das Internet und damit die sozialen Medien Einzug. Ist einmal die mediale Infrastruktur in einer Region gegeben, verbreiten sich die digitalen Angebote schlagartig und unvermittelt. Die Medienkompetenz auf dem Land ist alarmierend gering.
Tourismus und Logistik
Neben der Wasserkraft setzt Nepal stark auf den Tourismus als Ressource. Dieser konzentriert sich auf wenige Regionen. Neben den Städten sind besonders zwei Regionen touristisch stark überbevölkert: der Sagarmatha-Nationalpark mit dem Mount Everest und die Region bei Pokhara in der Mitte Nepals, der Anschluss zum Berggebiet um die Annapurna, dem zehnthöchsten Berg der Welt. Diese touristisch bewirtschafteten Zonen liegen deutlich höher als in der Schweiz. Ohne Probleme bekommt man auf 4450 Metern über Meer (nur 30 Höhenmeter niedriger als das Matterhorn) noch einen Kaffee aus der originalen Espressomaschine und kann eine Kinovorführung besuchen. Das bedeutet logistische Herausforderungen. Was in den Schweizer Bergen durch Transporthubschrauber gelöst werden kann, passiert in Nepal durch menschliche oder tierische Kraft. Gerade die tragenden Porter sind legendär. In jeder Fotosammlung von Nepalreisenden sind sie zu finden: die Aufnahmen von überbeladenen Trägern.
Die Ziege im Bus
Jede Gasflasche, jedes Bier, sogar jeder WC-Deckel in den Bergregionen ist getragen worden. Bis Lukla wird geflogen, ab da kommen bis 3500 Meter Maultiere zum Einsatz. In höheren Lagen fühlen sich Yaks wohler. Diese Transportkarawanen sind auf den engen Wegen berüchtigt: Nähert sich eine, ist die Devise, immer bergseitig zu stehen, um nicht von den ungekürzten Hörnern der Yaks eine Wand heruntergestossen zu werden. Die Treiber der Karawanen haben ihre Tiere zwar im Griff, sind aber für die Betreiber unwirtschaftlich und darum spärlich eingesetzt. Der Grad der tierischen Domestizierung hängt von der Region und der Kultur ab. Für die Landbevölkerung sind Tiere auch Kapitalanlagen und werden verpachtet. Dementsprechend gross ist die Sorgfalt und so darf die Ziege auch mal im Gästebereich des Busses mitfahren. In der Region Langtang hingegen, die einen Abschnitt des Himalayas nördlich von Kathmandu umfasst, reicht bereits ein falscher Blick und man wird von einem Yak mit gesenkten Hörnern verfolgt. Das Epizentrum des Erdbebens 2015 lag unter dem Nationalpark. Wegen der schlimmen Verwüstungen im gesamten Land verliess die Bevölkerung das Tal nach dem Vorfall für einige Zeit. Viele der zurückgelassenen Tiere verwilderten und nur wenige wurden rückdomestiziert: Das Heulen, das man nachts rund um den Ort Kyanjin Gompa hört, stammt nicht von Wölfen, sondern von einer verwilderten Hundepopulation, die sich auf Yak-Jagd begibt.
Schweizer Käse und Yak-Dung
In jenem Ort, auf 3850 Metern über Meer, gibt es eine Käserei, die durch Schweizer Hilfe aufgebaut wurde und einen milden Yak-Käse, ähnlich einem jungen Greyerzer, herstellt. Die Milch wird halsbrecherisch von den halbwilden Yaks besorgt und im aus der Schweiz importierten Kupferkessi über glimmendem Yak-Dung erwärmt. Obwohl die Vegetationszonen viel höher reichen als in der Schweiz und noch auf 5000 Metern Büsche und Gräser wachsen, ist gut brennbares Holz Mangelware. Die Menschen in diesen Höhen orientieren sich nahe an der Natur. Dies auch aus religiösen Gründen. Während der grösste Teil der nepalesischen Bevölkerung dem hinduistischen Glauben angehört und daher das Töten oder Verletzen einer Kuh unter Gefängnisstrafe steht, alle anderen Tiere aber viel und gerne gegessen werden, dominiert in den Bergen der tibetische Strang des Buddhismus. Dieser sieht vor, wenn er streng interpretiert wird, ganz vegetarisch zu leben. Im Langtang-Nationalpark ist es daher verboten, sämtliche Tiere zu töten, geschweige denn zu essen. Wenn man Kontakte hat und es doch einmal Yak-Fleisch gibt, wurde das Tier während Rudelkämpfen getötet oder starb an Altersschwäche. Es heisst für die Menschen, schneller als die Hunde beim Kadaver zu sein und unter dem Radar der militärischen Parkaufsicht zu agieren, um das Fleisch mitnehmen und essen zu können. Einmal erbeutet, wird jedes Teil des Tieres verwendet, auch aus religiösem Respekt dem Lebewesen gegenüber. So gibt es Augeneintopf, frittiertes Knochenmark und scharf angebratenes Hirn. Ein zu empfehlender Snack.
Reis aus dem Süden, Fleisch von der Strassenecke
Der Reis, der in der Stadt täglich auf den Tisch kommt, wird zu einem beträchtlichen Teil aus Indien importiert. Der Teil, der in Nepal angebaut wird, stammt aus dem tropischen Süden des Landes, wo sich die grössten landwirtschaftlich nutzbaren Flächen finden. Kürzer sind die Transportwege beim Fleisch, das in kleinen Strassenläden gekauft wird. Meistens wird in der Stadt Geflügel gegessen, das ausserhalb gezüchtet und in den Läden an der Ecke auf Wunsch gleich geschlachtet und zerteilt wird. Oft sieht man auf den Strassen Händler auf Fahrrädern, die skandierend Gemüse und Obst anpreisen. Auch dieses kommt aus dem näheren Umland. Nur wenige Kilometer von Kathmandu entfernt dominieren an den Hängen bereits Plantagen für Guaven und Pomelos. or.