Vom kleinen Bauernhof zum landwirtschaftlichen Grossbetrieb

Etwa zehn Kilometer vom Rheinfall entfernt ist der Bauernhof Russ angesiedelt, der mit Landwirtschaft, Bioenergie, Photovoltaik und Viehhandel vier eigenständige Betriebszweige umfasst. Mit 170 Hektaren Wiesen und Ackerland, 500 Rindviecher und 4000 Legehennen ist der Hof Russ einer der grössten Bauernhöfe am deutschen Hochrhein.

 

Für den Hühnerstall sind Michaela (rechts) und Regina Russ zuständig. Mit dabei die Kinder Sebastian und Leonie.

«Ich mache mir über unseren Hühnerstall zehnmal soviel Gedanken wie über die eigene Stube», sagt Michaela Russ, die 1994 mit einer Legehennen-Bodenhaltung in die Eierproduktion eingestiegen ist und die Hühnerhaltung sukzessive auf 2300 Legehennen ausgebaut hat.

Nach 25 Jahren stand die Familie Russ vor der Wahl, den alten Hühnerstall von Grund auf zu sanieren oder neu zu bauen. Weil bei einem Umbau die Eierproduktion etwa ein Jahr still gestanden wäre, fiel die Entscheidung für ein neues Betriebsgebäude, in dem jeweils 1400 Legehennen in drei Ställen völlig voneinander getrennt eingestallt sind.

Zum neuen Hühnerstall gehört auch eine ausgereifte Technik, die Michaela (links) und Regina Russ voll im Griff haben.

Im vergangenen Oktober ist die erste Herde eingezogen, im Januar die zweite und in diesem Sommer die dritte. Die einzelnen Herden werden nach etwa 14 Monaten komplett in den Schlachthof gegeben, wo sie zu Suppenhühnern und Tiernahrung verarbeitet werden. «Durch die gestaffelte Belegung der Ställe können Kunden durchgängig mit Eier versorgt werden», sagt Michaela Russs.

Die über 4000 Legehennen leben in einem Nestsystem mit unterschiedlichen Ebenen, das durch eine Baumstruktur der natürlichen Umgebung der Hühner angepasst ist. Obwohl in Deutschland für die Bodenhaltung kein Freilauf vorgeschrieben ist, wurde jeder Stall mit einem geschützten Wintergarten und einem vollständig eingezäunten Schönwetterauslauf ausgestattet. Die erfahrene Geflügelhalterin bemerkte, dass nicht die frische Luft alleine, sondern gesunde Tiere, hochwertiges Futter, Haltung und Hygiene die Faktoren für eine gute Eierqualität sind. «Den Hühnern hat man früher Getreidekörner hingeworfen und geglaubt das sei gut», erinnert sich die gebürtige Schwarzwälderin, die heute eine gentechnikfreie Mischung aus Weizen, Mais, Muschelkalk, Mineralstoffen und Sojaschrot verfüttert. Obwohl die Legeleistung von weissen Hühnern etwas höher ist, hat sie sich für braune Hybriden entschieden, die etwas ruhiger sind. Die Hühner sind am liebsten im Wintergarten, der mit unterschiedlichstem Beschäftigungsmaterial zum «Abenteuerland» der ursprünglichen Buschtiere umgestaltet wurde. Die Hühner picken aus einem Netz Heu heraus, pudern sich im Kalkbad mit Gesteinsmehl gegen Milben ein, kratzen im Sandkasten und wetzen an den Picksteinen die Schnäbel.

Stefan Russ erzeugt mit der Biogasanlage Strom und Wärme.

Die Eier werden legefrisch ab Hof verkauft und über regionale Lebensmittelmärkte und Bauernläden vermarktet. Die Familie Russ bietet auch Hofführungen an, die mit einem Umtrunk im eigenen Schulungsgebäude abgeschlossen werden. «Wir wollen dabei aber keine scheinbare alte Bauernromantik vorgaukeln, die es nie wirklich gab, sondern auf realistische Weise ökologische und ökonomische Werte vermitteln», sagt Michaela Russ.

Hof mit langer Tradition

Den Grundstein für den heutigen Hof Russ legte Adolf Kaltenbach, der Urgrossvater von Martin Russ, als er vor 120 Jahren den kleinen Bauernhof auf dem Lottstetter Weiler Dietenberg kaufte. Wie es damals üblich war, betrieb Kaltenbach die kleine Landwirtschaft im Nebenerwerb. Das Geld verdiente er in erster Linie mit einem Holzfuhrunternehmen. Von 1936 bis 1971 bewirtschaftete die Familie seines Sohnes Emil den Betrieb und stieg zudem in den Obst- und Beerenbau ein. 1971 übernahm die Tochter Waltraud mit Bernhard Russ den Hof und erweiterte ihn auf 16 Kühe und 40 Hektaren Acker- und Grünland.

Als vor 30 Jahren Martin, der älteste der vier Söhne von «Benni» und Waltraud Russ, mit seiner Frau Michaela den Hof übernahm, begann eine neue Ära. Das alte Hofgebäude wurde zu Quarantäneställen für jeweils 25 Kälber umgebaut und zwei neue Ställe für 26 Kühe und 70 Fresser errichtet. Vier Jahre später erfolgte mit dem Neubau von drei Hühnerställen auch der Einstieg in die Legehennen-Haltung. 1997 stieg Russ in die Premium Fleischerzeugung «Qualivo» ein, der mittlerweile 22 Fleischproduzenten aus Süddeutschland angeschlossen sind. Russ gab die Milchviehhaltung auf und baute den Kuhstall für 48 Bullen um. 2014 wurde dann noch ein neuer Auslaufstall für 250 Mastkälber gebaut. Die Kälber werden von reinen Milchviehbetrieben zugekauft. Die weiblichen Tiere kommen in die Kälbermast und die männlichen Kälber in die Bullenmast. Der alte Hühnerstall und der Bullenstall werden demnächst abgerissen und zwei neue Gebäude für Kalbstall und Bullenstall mit Auslauf gebaut. Das Projekt befindet sich bereits in der Genehmigungsphase. «Wir sind dann der erste Betrieb in Deutschland, der in der Kälbermast die Voraussetzungen für das Tierwohl-Label des Deutschen Tierschutzbundes erfüllt», sagt Martin Russ.

Der Hof Russ in der Grenzgemeinde Lottstetten ist auf landwirtschaftliche Produktion, Tiermast und Energiegewinnung ausgerichtet.

Die fünfte Familiengeneration
2003 erfolgte mit dem Bau der ersten 23,4 kW Solaranlage ein weiterer Meilenstein der Hofgeschichte. Mittlerweile umfasst die Photovoltaikanlage vom Hof Russ 480 kW Dachfläche und 750 kW Freifläche. Vor zwölf Jahren stieg Stefan Russ, der ältere der beiden Söhne, als ausgebildeter Agrartechniker in die Hof Russ GbR ein (siehe Kasten). Stefan und Martin Russ gründeten den Gewerbebetrieb «Bioenergie Dietenberg» und bauten eine Biogasanlage mit einer Gesamtjahresleistung von 460 kW/h. Neben Grüngut, Mais und Silphie wird die Anlage auch mit Hühnerkot betrieben. «Hühnermist bringt richtig Dampf», sagt Stefan Russ, der für den Biogasbereich zuständig ist. Neben der Stromproduktion versorgt die Biogasanlage mit der Abwärme die eigene Liegenschaft und das nahegelegene Wohngebiet. Mit der Wärme, die in der Übergangszeit und im Sommer nicht abgerufen wird, werden in der angebauten Trocknungsanlage Hackschnitzel getrocknet. Der Hof Russ produziert jährlich über vier Millionen Kilowattstunden Strom, was etwa dem halben Verbrauch der 2300 Einwohner der Gemeinde Lottstetten entspricht und versorgt rund 100 Häuser mit Wärme.

 

Hof für die ganze Familie

 Der Bauernhof Russ wird als Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) geführt, wobei Martin (58), Michaela (55) und Stefan (31) Russ gleichberechtigte Gesellschafter sind. Stefan Russ ist landwirtschaftlicher Betriebsleiter und sein Vater Martin Geschäftsführer der Vieh- und Fleischhandel „Qualivo Deutschland“ GmbH. Michaela Russ ist für den Legehennenbereich zuständig und wird von der Schwiegertochter Regina (29) unterstützt, die als ausgebildete Wirtschaftsfachwirtin die Bürogeschäfte erledigt und die Familie mit den drei Kindern Sebastian, Leonie und Valentin umsorgt. Zudem sind drei Festangestellte und ein Lehrling auf dem Hof beschäftigt. tg.

 

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Was beschäftigt Landwirtinnen und Landwirte jenseits unserer nördlichen Grenze? Mit welchen Freuden und Herausforderungen sind sie im Alltag konfrontiert? In dieser Sommerserie werden un[1]terschiedliche Betriebe in Baden[1]Württemberg besucht und ein Einblick in die Arbeit von Bauern in Süddeutschland gegeben. red.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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