Vom Krankenpfleger zum Schellenschmied

René Soller aus dem thurgauischen Zihlschlacht ist gelernter Krankenpfleger. Das Schmieden hat es ihm angetan. Was einst als Hobby begann, hat er inzwischen zu seinem Beruf gemacht. Seit einigen Jahren betreibt er sein Schmiedeatelier, vor acht Jahren hat er sich selbstständig gemacht.

René Soller hält einen Blechzuschnitt für eine Schelle (aus einem Stück) in das offene Schmiedefeuer.
René Soller hält einen Blechzuschnitt für eine Schelle (aus einem Stück) in das offene Schmiedefeuer.

In der Esse lodern die Flammen. René Soller hält ein zugeschnittenes Blech für eine Schelle in das offene Schmiedefeuer. Danach nimmt er dieses glühende Eisen, legt es auf eine Ringform auf dem Amboss und klopft es mit einem Hammer in die richtige Form. Unzählige Male wiederholt er diesen Vorgang. Schwarz ist nicht nur die vorherrschende Farbe in der Werkstatt, schwarz sind auch seine Hände vom Schmiedehandwerk, das er schon seit geraumer Zeit ausübt. In seiner Werkstatt, die sich neben seinem Wohnhaus im thurgauischen Zihlschlacht befindet, entsteht ein breites Spektrum an Schmiedearbeiten. Nebst Kunstgegenständen macht er unter anderem auch Neuanfertigungen von Geländern, führt Restaurationen aus und bietet Schmiedekurse an bei sich und in der Klangschmiede Toggenburg in Alt St. Johann. Im vergangenen Jahr baute René Soller die älteste Glocke (eigentlich eine Schelle) der Schweiz nach – die Gallusglocke, die im Chorraum der Kathedrale St. Gallen hängt.

Vom Pfleger zum Schmied

Kaum jemand käme auf die Idee, dass René Soller gelernter Krankenpfleger ist. Was vor bald 20 Jahren als Hobby begann, ist inzwischen zu einer grossen Leidenschaft geworden. «Damals habe ich beim Schmied Hugo Berger in Biessenhofen bei Amriswil an einer Ausstellung Feuer gefangen», sagt René Soller und lacht. Seine Frau Magdalena Soller habe ihm darauf einen Schmiede-Einführungskurs bei Berger geschenkt. Weiteres Wissen hat er im Selbststudium erworben, unter anderem beim Lesen von unzähligen Fachbüchern. Bald schon habe er seine erste kleine Schmiedewerkstatt in einem Zelt im eigenen Garten untergebracht. Einige Jahre später ging dann ein lang gehegter Traum in Erfüllung. Er bekam die Möglichkeit, einen Scheunenteil gegenüber seinem Wohnhaus zu mieten. Dort betreibt er seither sein Schmiedeatelier.

Verschiedene Rollen und Schellen.
Verschiedene Rollen und Schellen.

Eine neue Herausforderung

Im Februar 2016 hat René Soller seine Leidenschaft zum Beruf gemacht. «Meine Arbeit als Schmied ist zu einer Berufung geworden», sagt er. Zuvor war er als Krankenpfleger und Berufsschullehrer für Krankenpflege tätig. In verschiedenen Bereichen hat er über 30 Jahre am Kantonsspital St. Gallen gearbeitet. «Nun war die Zeit reif, mich im Kunsthandwerk selbstständig zu machen, ein Traum hat sich erfüllt. Zudem waren zu jenem Zeitpunkt unsere vier Söhne bereits erwachsen, und das Schmieden hat mich immer mehr fasziniert», erklärt der 61-Jährige seine Motiva- tionsgründe. Was René Soller macht, tut er mit viel Hingabe und Begeisterung – einst zum Wohle der Patienten, Mitarbeitenden und Lernenden, heute zum Wohle der Kunden.

Schellen und Rollen

Mit den vier Grundelementen Luft, Erde, Feuer und Wasser wurden damals wie heute Rollen und Schellen geschmiedet. Rollen sind geschlitzte, kugelartige Schellenformen und sind meist feuervermessingt. Rollen werden beispielsweise beim Silvesterchlausen im Kanton Appenzell Ausserrhoden getragen. Für Pferdefuhrwerke wurden oftmals Rollen, einzeln oder mehrere auf Riemen montiert, als «Gerölle» verwendet. Auf den Schellenkarten beim Jassen sind Rollen abgebildet, und der legendäre Schellen-Ursli trägt eine Schelle. Rollen und Schellen werden im Gegensatz zu Glocken nicht gegossen, sondern aus Eisenblech geschmiedet, anschliessend vernietet und verlötet oder verschweisst. Um solche Klangkörper herzustellen, braucht es enorm viel Gespür für die Form, Wissen und Können sowie handwerkliches Geschick. René Soller hat beim Schellenschmied Pierre Turrian aus Château-d’Oex im Kanton Waadt das Löten von Schellen im Feuer gelernt. Weiteres Wissen hat er sich über das Internet und Bücher angeeignet.

Die Beschichtung der Oberfläche, das sogenannte Feuervermessingen sei eine aufwendige Methode, die eine besondere Herausforderung im Herstellungsprozess darstelle. René Soller bezeichnet das Feuervermessingen als Krönung der Schelle. «Das Feuervermessingen kann man nirgends erlernen. Vor vielen Jahren, bevor ich überhaupt zu schmieden begann, bin ich auf ein Buch von den Gürtlern (Handwerker, die Gegenstände aus Metall überzogen, wie zum Beispiel Handläufe oder Schnallen mit Kupfer, Messing, Gold und Silber) aus dem Jahre 1840 gestossen. Darin habe ich eine Rezeptur gefunden, um einen Lehmteig herzustellen, der zum Löten im Feuer verwendet wurde.» Die genaue Rezeptur des Lehmteiges war einst ein gut gehütetes Familiengeheimnis, das nur von Generation zu Generation weitergegeben wurde. «Ich habe die Lehmteigrezeptur aus dem Buch der Gürtler ausprobiert, und es hat funktioniert.» Zuerst werden die Schellen mit Messingteilen versehen und in den Lehmteig eingepackt, den René Soller aus Wasser, Modellierton, Pferdemist, Hammerschlag (Abfallprodukt beim Schmieden) und Quarzsand herstellt. Eingehüllt in diesen Lehmmantel, gelangt die Schelle bei René Soller in einen geschlossenen Raku-Ofen (eine Keramiktechnik aus Japan). Der Ofen ist aus einem alten Boiler gebaut und wird mit «Tannenspriessli» beheizt. Bei über 1100 Grad werden die Schellen für etwa eine Stunde gebrannt. Dabei schmilzt das Messing und überzieht die Schelle innen und aussen. Nachdem alles im Wasserbad abgekühlt wurde, wird die Schelle aus der Keramikschale, die vor dem Brennen ein Lehmteig war, aufgebrochen. «Dann kommt der grosse Moment, wenn die Schelle befreit wird. Es ist die Geburt einer Schelle, und man hofft, dass diese unversehrt ist und schön klingt», erklärt René Soller. Letztlich wird der Klangkörper noch gebürstet.

Früher wurden sämtliche Schellen und Rollen handgeschmiedet, heute ist dies nur noch vereinzelt der Fall. Die Industrialisierung brachte dieses Handwerk praktisch zum Erliegen. Das Feuervermessingen im Lehm wurde durch das Galvanisieren oder das Tauchen ins Messingbad, wie Feuerverzinken, abgelöst. Das Feuervermessingen im Lehm wird aber immer noch in verschiedenen Ländern ausgeübt.

René Soller hat die älteste Glocke der Schweiz nachgeschmiedet – die Original-Gallusglocke, die im Chorraum der Kathedrale St. Gallen hängt.
René Soller hat die älteste Glocke der Schweiz nachgeschmiedet – die Original-Gallusglocke, die im Chorraum der Kathedrale St. Gallen hängt.

Älteste Glocke nachgebildet

Für René Soller war es eine Ehre und zugleich eine grosse Herausforderung, die älteste Glocke der Schweiz nachzubilden, und dies in zweifacher Ausführung. Die Original-Glocke, die einst geschmiedet und nicht gegossen wurde, hängt etwas versteckt hinter einer Säule im Chorraum der Kathedrale St. Gallen und stammt aus dem siebten Jahrhundert. Der irische Mönch Gallus brachte sie mit. Viele Stunden hat der Zihlschlachter Kunstschmied in seine Nachbildung investiert, zuvor das Original unter anderem vor Ort vermessen und studiert. Die Gallusglocke hat er aus einem einzigen Stück Stahlblech geformt, zusammengenietet und mit Kupfer gelötet. Die Herausforderung sei dabei gewesen, dass er die Glocke nur Stück für Stück erhitzen konnte wegen der Grösse. Diese nachgebildete Gallusglocke soll den Besucherinnen und Besuchern der Kathedrale und der Stiftsbibliothek zeigen, wie die Glocke aus dem siebten Jahrhundert klang. Auslöser für die Nachbildung war eine Anfrage aus Deutschland anlässlich der Landesausstellung 2024 zur Klosterinsel Reichenau.

René Soller sieht im alten Handwerk auch neue Möglichkeiten. Dass Kreativität keine Grenzen kennt, zeigt der geschmiedete Apfel, den der Schmied auf dieselbe Art wie eine traditionelle Rolle hergestellt hat. Der Zihlschlachter Künstler hofft, dass er seinen Beruf noch lange ausüben kann. «Denn schmieden kann man schliesslich auch noch nach der Pensionierung», sagt er mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen.

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