Wenn die Schule eine Qual ist

Auch wenn die meisten Erwachsenen der Meinung sind, dass die heutige Schule ein Paradies ist, gibt es Kinder, die nicht gern zur Schule gehen. Das ist für das Kind, die Eltern und auch für die Lehrkräfte schwierig. Heilpädagogin Martina Herrmann gibt Antworten und Ratschläge.

Martina Herrmann ist Heilpädagogin und Heilpraktikerin. Bild: asw.
Martina Herrmann ist Heilpädagogin und Heilpraktikerin. Bild: asw.

Martina Herrmann, Sie sind Heilpädagogin. Ist die Geschichte von «todunglücklichen» Schulkindern eine Mär oder gibt es das tatsächlich?

Martina Herrmann: Leider ist das kein Märchen. Es gibt immer wieder Schulkinder, für die die Schule eine Qual ist. Dann ist die Situation für alle Involvierten schwierig. Spontan fallen mir zwei Persönlichkeiten ein, für die der Schulalltag eine tragische Zeit war. Der erste Bub ging gern zur Schule. Nach einem Todesfall in der Familie, der den Jungen sehr belastete, kam er «aus der Spur». Er wurde schulmüde und verlor das Interesse an der Schule. Es führte so weit, dass der zehnjährige Knabe «abhängte». Er schwänzte die Schule, machte die Aufgaben nicht mehr und entdeckte Aktivitäten für sich, mit denen seine Bezugspersonen nicht einverstanden sein konnten. Nach der obligatorischen Schulpflicht hätte er sich am liebsten «etwas herumgetrieben». Seine Mutter machte dem Jugendlichen aber klar, dass er eine Lehre machen muss. Mit grosser Unlust schloss er eine handwerkliche Lehre ab. Heute ist der junge Mann 30-jährig und befindet sich in der Ausbildung zum Lehrer. Und das Schönste: Er ist glücklich in der Schulstube und hat endlich seine wahre Berufung gefunden.

Ein anderer Bub hasste die Schule vom ersten bis zum letzten Tag. Damit seine verzweifelte Mutter ihn am ersten Schultag in die Dusche bekam, musste sie ihm ein Kalb versprechen. Für den Jungen war klar, dass er sowieso Bauer werden wollte und es deshalb weder Schule noch Lehrer brauchte. Die offiziellen Amtsstellen und seine Mutter sahen es anders. Für sie war klar, dass auch ein Landwirt eine gute Ausbildung benötigt. Auch dieser Bub ist längst erwachsen – ein glücklicher und erfolgreicher Bauer, der seinen Kindern immer wieder sagt, wie wichtig die Schule ist …

Wer ist schuld, dass Kinder nicht gern zur Schule gehen? Haben die Eltern ihr Kind falsch oder gar nicht auf die Schule vorbereitet oder sind es die Lehrkräfte, die kein Verständnis haben für Kinder, die andere Interessen als die Schule haben?

Dieser Bauernbub mochte die Schule nicht. Oft klagte er seiner Kuh sein «Schulleid». Bild: asw.
Dieser Bauernbub mochte die Schule nicht. Oft klagte er seiner Kuh sein «Schulleid». Bild: asw.

Herrmann: Niemand ist schuld, wenn ein Kind nicht gern zur Schule geht. Unser Schulsystem ist nicht für jedes Kind geeignet. Es gibt praktisch begabte Kinder, die «in diesen theoretischen Sachen» der Schule den Nutzen nicht sehen. Für sie passt das System nicht – aber deswegen trägt niemand eine Schuld. Aus meiner Sicht müssen Kinder nicht auf die Schule vorbereitet werden. In den meisten Fällen freuen sie sich, endlich «gross» zu sein und zur Schule gehen zu dürfen. In Einzelfällen ist das aber anders. Wenn ein Kind in der Schule unglücklich ist und am liebsten nicht hingehen möchte, sollten die Eltern sofort mit der Lehrperson Kontakt aufnehmen. Vielleicht findet man den Grund, weshalb das Kind in der Schule unglücklich ist – vielleicht aber auch nicht. In der Regel hilft es unglücklichen Schülern, wenn sie mit ihrer Klasse in die Natur gehen können. Im Wald, im Schulgarten oder bei anderen praktischen Arbeiten in der Natur sind es oft die unglücklichen Schüler und Schülerinnen, die aufblühen. Sehr wichtig ist, dass die Eltern einen guten Kontakt zur Lehrkraft haben. Falsch wäre, das Kind gegen die Lehrkraft aufzubringen.

Was macht man in der Schule mit Kindern, die nicht gern zum Unterricht kommen, sich vielleicht auch querstellen?

Herrmann: Sicher sucht die Lehrkraft immer wieder das Gespräch mit dem Kind. Die Beziehungsebene muss stimmen. Auch wenn das Kind die Schule ungern besucht, sollte es eine gute Beziehung zur Lehrkraft haben. Als Lehrer ist es wichtig, dem Kind immer wieder genau zuzuhören. Das Kind gibt Botschaften, die der Lehrkraft weiterhelfen. Gemeinsam mit dem Kind können mögliche Wege gefunden werden, damit das Kind die Schule nicht als totalen Albtraum empfindet. Der Lehrer ist der Coach des Kindes und nicht ein «Kumpel, der alles durchlässt». Leitplanken und Grenzen müssen klar sein. Sie sind wichtig fürs Kind. Es gibt Schulen, die Kinder, die als Querulanten auftreten, von der Schule weisen und in ein «Time-out» stecken. Aus meiner Sicht darf das nur eine absolute Ausnahme sein. Auch «schwierige» Kinder müssen die Schule besuchen. Es kann nicht sein, dass man ihnen alle Stolpersteine aus dem Weg räumt. An Herausforderungen wachsen sie. Alle Schwierigkeiten, die Kinder überwinden, sind Erfolgserlebnisse, die später helfen, Probleme zu meistern.

Für ein Schweizer Schulkind dauert der Schulalltag in der Regel neun Jahre. Das ist eine lange Zeit. Gibt es Möglichkeiten, das Kind dazu zu bringen, lieber in die Schule zu gehen? Was kann man in der Familie diesbezüglich unternehmen?

Herrmann: Erstens: Das Kind unterstützen. Zweitens: Druck wegnehmen und dem Kind das Gefühl geben, dass es – so wie es ist – richtig ist. In der Freizeit sollte die Schule kein Thema sein, die Freizeit sollte ein Ausgleich sein. Wenn ein Kind die Schule hasst, wird es immer wieder schwierige Momente geben. Diese gilt es von den Eltern auszuhalten. Ebenfalls wichtig ist, beim Kind keine falschen oder zu hohen Erwartungen zu wecken. Nicht jedes Kind kann gute Schulnoten nach Hause bringen. Kinder haben verschiedene Talente – die gilt es zu fördern. Nicht die Wünsche und Erwartungen der Eltern sind wichtig, sondern die Stärken der Kinder. Leider gibt es Eltern, die der Auffassung sind, dass ihre Kinder mindestens das Gymnasium absolviert haben müssen, um glücklich zu sein. Das stimmt sicher nicht. Es gibt unzählige glückliche Handwerker und Unternehmerinnen – auch ohne Matura.

In unserer Gesellschaft ist klar, dass Bildung etwas Wichtiges ist. Wenn die Eltern es über Jahre nicht schaffen, den Schulfrust des Kindes auszulöschen, ist eine schwierige Zukunft die logische Folge, oder nicht? Wird dieses Kind im Leben Mühe haben?

Herrmann: (Sie schmunzelt) Nein, dieses Kind wird nicht automatisch Mühe haben. Manche Kinder brauchen länger und oft ist ein Umweg ein grosser Gewinn. Für die Eltern gilt: Nicht verzagen und weiterhin die Stärken des Kindes fördern und nicht die eigenen Wünsche auf das Kind projizieren. Dann kommt es – vielleicht erst im zweiten oder allenfalls dritten Anlauf – meistens gut. Für mich sind die beiden eingangs erwähnten Buben schöne Beispiele von jetzt glücklichen Männern.

Es wäre wichtig: Praktisch begabte Kinder mögen den Unterricht im Freien. Bild: zVg.
Es wäre wichtig: Praktisch begabte Kinder mögen den Unterricht im Freien. Bild: zVg.

Zur Person

Martina Herrmann ist Mutter von zwei erwachsenen Söhnen. Sie ist ausgebildete Heilpädagogin und Heilpraktikerin. Sie unterrichtete viele Jahre in verschiedenen Stufen. Heute gibt sie ihr Wissen an der Kräuterakademie in Salez weiter und bewirtschaftet einen grossen Garten mit vielen Kräutern. Im Sommerhalbjahr lebt sie in Schwendi im Weisstannental, den Winter verbringt sie mit ihrem Mann auf einer Farm in Australien. asw.

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