Die politisch beeinflusste Lebensmittelpyramide
In Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt es neue Empfehlungen zur gesunden Ernährung. Hinter diesen Lebensmittelpyramiden stehen oft mehr Politik, Wirtschaft und Gesellschaft als Wissenschaft.
In Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt es neue Empfehlungen für eine gesunde Ernährung. Die staatlichen Empfehlungen für eine gesunde Ernährung werden kritisiert seit es diese gibt. Die Geschichte dieser Lebensmittelpyramiden ist weniger eine Geschichte der Ernährungswissenschaften, sondern vielmehr eine Geschichte der Lobbys von Politik, Wirtschaftsinteressen und Umweltverbänden.
Die erste Lebensmittelpyramide veröffentlicht 1992 das US-amerikanische Landwirtschaftsministerium (USDA). Trotz Kritik übernehmen sie viele andere Länder.
Die USDA-Pyramide von 1992 sieht folgendermassen aus:
– Getreideprodukte aus raffiniertem Getreide: 45 Prozent (Weissbrot, Reis und Teigwaren)
– Gemüse und Früchte: je 15 Prozent
– Tierische und pflanzliche Proteine: zehn Prozent (rotes Fleisch, Geflügel und Fisch, Eier, Hülsenfrüchte und Nüsse)
– Milch und Milchprodukte: zehn Prozent
– Fette, Öle und Süssigkeiten: fünf Prozent
Die USDA-Pyramide empfiehlt eine Ernährung mit höchstens 20 bis 25 Prozent tierischen Proteinen. Eine Prozentzahl, die mit Ausnahme des «Healthy Eating Plate» mit 15 bis 20 Prozent bis heute alle nachfolgenden Modelle beibehält.
In der Kritik steht die USDA-Pyramide, weil das US-Landwirtschaftsministerium viele raffinierte Getreideprodukte empfiehlt, um den damaligen Sturzflug der Weizenpreise aufzufangen. Der übermässige Konsum von «white bread» (weisses Brot) und «Mac and Cheese» (amerikanische Käsemakkaronen) führt in der Folge zu vermehrtem Übergewicht bei der US-Bevölkerung.
Gesunde Fette aus Olivenöl, Nüssen und Fischen sowie pflanzliche Proteine werden ignoriert. Die Pyramide macht zudem keinen Unterschied zwischen unverarbeiteten und hoch verarbeiteten Lebensmitteln und keine Angaben zu Portionengrössen.
Der «MyPlate»-Teller
Die Kritik an der Lebensmittelpyramide bringt das US-Landwirtschaftsministerium 2011 zur Entwicklung der «MyPlate»-Empfehlungen in Form eines Tellers:
– Gemüse: 30 Prozent
– Obst: 20 Prozent
– Getreideprodukte und Kartoffeln: 30 Prozent (Brot und Beilagen wie Reis und Teigwaren)
– Tierische und pflanzliche Proteine: 20 Prozent (rotes Fleisch, Geflügel und Fisch, Eier, Hülsenfrüchte und Nüsse)
– Milch und Milchprodukte: Zwei Portionen pro Tag werden separat gerechnet.
Auch «MyPlate» (mein Teller) empfiehlt eine Ernährung mit höchstens 20 bis 25 Prozent tierischen Proteinen. Trotzdem kritisieren Veganer erstmals die Empfehlung für Milch und Milchprodukte.
Auf Druck der US-Lebensmittelindustrie unterscheidet «MyPlate» weiterhin nicht zwischen unverarbeiteten und hoch verarbeiteten Lebensmitteln und «MyPlate» macht ebenfalls keine Angaben zu Portionengrössen.
Der «Healthy Eating Plate»
Um die Schwächen der USDA-Lebensmittelpyramide und von «MyPlate» zu korrigieren, wurde an der Harvard-Universität in Boston 2017 der «Healthy Eating Plate» – der sogenannte gesunde Teller – entwickelt. Erstmals wurden dazu Empfehlungen für Getränke wie Wasser, Tee und Kaffee und andere ungesüsste Getränke abgegeben.
Der «Healthy Eating Plate» setzt sich folgendermassen zusammen:
– Gemüse: 30 Prozent (ausdrücklich ohne Kartoffeln, die wegen dem schnellen Blutzuckerspiegelanstieg vermieden werden sollen)
– Obst: 20 Prozent
– Getreideprodukte, möglichst Vollkorn: 30 Prozent (Brot und Beilagen wie Reis und Teigwaren)
– Milch und Milchprodukte: Zwei Portionen pro Tag werden separat gerechnet.
– Pflanzenöle aus Oliven, Raps, Soja, Mais, Sonnenblumen und Erdnüssen werden separat gerechnet.
– tierische und pflanzliche Proteine: 20 Prozent (Fisch und Geflügel, Eier, Hülsenfrüchte und Nüsse, aber wenig rotes Fleisch oder verarbeitetes Fleisch wie Schinken und Wurst)
Der «Healthy Eating Plate» empfiehlt eine Ernährung mit nur 15 bis 20 Prozent tierischen Proteinen. Trotzdem kritisieren Veganerinnen, dass immer noch Milchprodukte erwähnt werden.
Der «Healthy Eating Plate» unterscheidet die Lebensmittel neu nach deren Qualität, empfiehlt zum Beispiel Vollkornprodukte statt raffiniertem Getreide. Aber auch der «Healthy Eating Plate» macht keine Angaben zu Portionengrössen.
Auswirkungen auf die Umwelt
Mitte September wurde die neue Schweizer Lebensmittelpyramide veröffentlicht. Diese kommt aus der Küche des Bundesamts für Lebensmittelsicherheit (BLV) und der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung (SGE). Die SGE liefert zudem noch ein eigenes Tellermodell mit. Die neue Schweizer Lebensmittelpyramide berücksichtigt ausserdem erstmals die Auswirkungen auf die Umwelt. Empfohlen werden saisonale und regionale Produkte, Vollkornprodukte und pflanzliche Proteinlieferanten. Zudem wird ausdrücklich darauf hingewiesen, weniger verarbeitete Lebensmittel zu konsumieren.
Die neue Schweizer Lebensmittelpyramide:
– Getränke: ein bis zwei Liter Wasser, Tee und Kaffee und andere ungesüsste Getränke pro Tag
– Gemüse und Obst: 25 Prozent respektive 20 Prozent
– Getreideprodukte, möglichst Vollkorn, und Kartoffeln: 30 Prozent (Brot und Beilagen wie Reis und Teigwaren)
– Tierische und pflanzliche Proteine: zehn Prozent (Fleisch und Fisch, Eier, Hülsenfrüchte und daraus hergestellte Produkte)
– Milch und Milchprodukte: 20 Prozent und höchstens drei Portionen pro Tag
– eine Handvoll Nüsse und Samen pro Tag sowie zwei Esslöffel Fette und pflanzliche Öle pro Tag
– Fettes, Süsses und Salziges, Süssgetränke und Alkohol: selten
Auch die neue Schweizer Pyramide empfiehlt eine Ernährung mit 20 bis 25 Prozent tierischen Proteinen.
Vermischung schafft Verwirrung
Beim Schweizer Bauernverband (SBV) hält sich die Freude aber in engen Grenzen. SBV-Kommunikationschefin Sandra Helfenstein zeigt eklatante Widersprüche der neuen Lebensmittelpyramide auf: «Die eine Behörde kritisiert Futtermittelimporte für Geflügel, die andere propagiert den Pouletfleischkonsum in der Pyramide. Diese Behörde propagiert ’nose to tail‘ – also vom Schnörrli zum Schwänzli – und die andere zeigt als Symbol für Fleisch in der Pyramide ausgerechnet eine Pouletbrust.»
Ein Widerspruch sei auch, dass Apfelsaft aus der Lebensmittelpyramide fällt, weil er weniger Nahrungsfasern habe, seine glykämische Last höher sei und der Saft nicht zum gleichen Sättigungsgefühl führe wie ein ganzer Apfel. «Dabei macht Apfelsaft aus Umweltsicht und zur Reduktion von Food Waste grössten Sinn und gerade Äpfel der für die Biodiversität wertvollen Hochstammbäume eignen sich oft nur für die Saftproduktion», betont SBV-Kommunikationschefin Sandra Helfenstein. «Die Vermischung zwischen ‚gut für die Gesundheit‘ und ‚gut für die Umwelt‘ schafft nur Verwirrung», moniert sie.
Entspannter sieht es Mathias Binswanger, einer der einflussreichsten Schweizer Ökonomen: «Man sollte solche Lebensmittelpyramiden nicht allzu ernst nehmen, sondern höchstens als eine Art Empfehlung sehen.» Gemäss Mathias Binswanger «ist die empirische Evidenz für gesunde Ernährung flexibel und empfiehlt immer wieder andere Formen von gesunder Ernährung».
Zudem seien die jetzt einbezogenen Auswirkungen auf die Umwelt stark von Annahmen abhängig, die in Bezug auf Umweltwirkungen getroffen werden müssen. Die individuellen Unterschiede der Menschen würden völlig ausser Acht gelassen. Und dann meint Mathias Binswanger: «Essen und trinken soll Freude machen und zu einem glücklichen Leben beitragen – ein zu gesundes Leben kann auf die Dauer auch ungesund werden.»
Harsche Kritik
Ende September präsentierten die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) und die Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung (BLE) ihre überarbeitete Version der deutschen Lebensmittelpyramide. Auch diese Pyramide berücksichtigt erstmals die Auswirkungen auf die Umwelt.
Die neue deutsche Lebensmittelpyramide:
– Getränke: 1,5 Liter Wasser, Tee und Kaffee und andere ungesüsste Getränke pro Tag
– Gemüse und Obst: 35 Prozent respektive 15 Prozent
– Getreideprodukte, möglichst Vollkorn, und Kartoffeln: 30 Prozent (Brot und Beilagen wie Reis und Teigwaren)
– Tierische und pflanzliche Proteine: zehn Prozent (Fleisch und Fisch, ein Ei pro Woche, Hülsenfrüchte und daraus hergestellte Produkte)
– Milch und Milchprodukte: 15 Prozent und höchstens zwei Portionen pro Tag
– eine Handvoll Nüsse und Samen pro Tag, ein Esslöffel Fette und pflanzliche Öle pro Tag
– Fettes, Süsses und Salziges: selten
Die neue deutsche Pyramide empfiehlt eine Ernährung mit 20 bis 25 Prozent tierischen Proteinen. Dass die Deutschen deshalb täglich nur zwei Portionen Milch oder Milchprodukte konsumieren sollen, jagte den Blutdruck der Milchproduzenten in ungesunde Höhen: «Das ist Angstmacherei und lebensfremd.»
Die Empfehlung, pro Woche nur 300 Gramm statt 1000 Gramm Fleisch sowie nur ein Ei statt fünf Eier zu essen, brachte die Fleisch- und Eierproduzenten auf die Barrikaden.
Sogar die Deutsche Akademie für Präventivmedizin (DAPM) kritisiert die neuen Ernährungsempfehlungen. Die DAPM sieht «gravierende Fehler im Ansatz dieser Empfehlungen und in inhaltlichen Aussagen, die überholt und nicht evidenzbasiert sind und zusätzlich den Klimaschutz teilweise über die Gesundheit der Bevölkerung zu stellen scheinen».
Empfehlungen aus Österreich
In den nächsten Wochen werden auch die neuen österreichischen Ernährungsempfehlungen veröffentlicht. Wie Recherchen zeigen, werden wie in Deutschland und der Schweiz neu auch in Österreich die Auswirkungen auf die Umwelt berücksichtigt.
Die neuen Ernährungsempfehlungen in Österreich:
– Getränke: 1,5 Liter Wasser, Tee und Kaffee und andere ungesüsste Getränke pro Tag
– Gemüse und Obst: 25 Prozent
– Getreideprodukte, möglichst Vollkorn, und Kartoffeln: 20 Prozent (Brot und Beilagen wie Reis und Teigwaren)
– tierische Proteine: zehn Prozent (Fleisch und Fisch, Eier)
– pflanzliche Proteine: 20 Prozent (Hülsenfrüchte und daraus hergestellte Produkte)
– Milch und Milchprodukte: zehn Prozent und höchstens zwei Portionen pro Tag
– Fette, pflanzliche Öle und Nüsse: 15 Prozent
– Fettes, Süsses und Salziges: selten
Die neuen österreichischen Ernährungsempfehlungen sind offenbar differenzierter als jene in Deutschland und der Schweiz. So soll es in Österreich erstmals auch Empfehlungen für die vegetarische Ernährung geben.