Brieftauben: Unterwegs mit der Landkarte im Kopf
Ernst Bühler aus dem thurgauischen Amriswil ist Brieftaubenzüchter aus Leidenschaft. In seinem Taubenschlag leben gegen 100 Brieftauben, die auf Distanzflügen jedes Jahr mehrere Tausend Kilometer zurücklegen.
Das monotone Gurren beim Betreten des Taubenschlages ist nicht zu überhören. Paarweise sitzen die Brieftauben in ihren eigenen Zellen, die sie auch vehement gegen ihre Artgenossen verteidigen. Das Gurren gehöre zum Balzverhalten der Tiere. «Der männliche Vogel lockt auf diese Weise sein Weibchen an», erklärt Brieftaubenzüchter Ernst Bühler. In seinem Taubenschlag leben derzeit gegen 100 Brieftauben – davon rund 60 Jungtiere. Der 65-jährige gelernte Landmaschinenmechaniker-Meister wohnt mit seiner Frau Trudi in Amriswil und ist Präsident des Brieftaubensportvereins (BSV) Bodensee.
Einst Nachrichten übermittelt
«Mein Grossvater hielt schon Tauben. Es waren aber Haus- und keine Brieftauben», erinnert sich Ernst Bühler. Die Brieftaube sei eine Taubenrasse, die sich durch ihre besondere Orientierungsfähigkeit, ihr ausgeprägtes Heimfindevermögen und ihre Fähigkeit, in kürzester Zeit weite Strecken zurückzulegen, auszeichne. Früher, insbesondere in Kriegszeiten, habe man Brieftauben eingesetzt, um Nachrichten zu übermitteln. Die Nachricht wurde auf einem zusammengerollten Zettel in einem Behältnis am Fuss der Taube befestigt und konnte so besonders schnell überbracht werden. Zudem konnten die gefiederten Kuriere ungehindert Grenzen überfliegen. Auch seien Brieftauben einst zum Transport von Blutkonserven eingesetzt worden.
Heute werden die Tiere hobbymässig gehalten und auf Distanzflügen trainiert. Haustauben zeichnen sich als prächtige Farben- und Formentauben aus, die an Ausstellungen zu bewundern sind. Freude an den Brieftauben bekam Ernst Bühler eigentlich erst später durch einen Bekannten, der züchtete. Vor 20 Jahren habe es ihm dann den Ärmel definitiv reingezogen. Der Grundstein zu seiner eigenen Zucht sei damals an einer Brieftaubenausstellung in Neukirch-Egnach gelegt worden, sagt er.
Verlad in Muolen
Grundsätzlich bleiben Tauben ein Leben lang mit demselben Partner zusammen, ausser sie werden durch den Züchter «umgepaart». Meistens würden die Tiere in den Wintermonaten nach Geschlechtern getrennt gehalten, damit es während dieser Zeit keine Jungen gibt. Die Anpaarung der Tauben findet hauptsächlich im Frühling statt, dann bilden sich je nach Züchterwunsch neue Taubenpaare. Die Weibchen legen in der Regel je Gelege zwei Eier. «Mein Ziel ist es, hochqualitative Brieftauben zu züchten, die eine gute Flugleistung erbringen», äussert sich Ernst Bühler dazu.
In einem speziellen «Kabinen-Express»-Lieferwagen mit 36 Boxen werden zwischen 700 und 800 Brieftauben der Mitglieder des BSV Bodensee zu den jeweiligen Distanzflug-Startorten transportiert. «Das Einsetzen der Brieftauben (Verlad) ist seit vielen Jahren immer beim Restaurant Hirschen in Muolen», führt er aus. Denn die Mitglieder des BSV kommen aus der ganzen Ostschweiz. Vor rund 50 Jahren seien die Brieftauben noch per Bahn zu den Startorten transportiert worden. Der Verlad der Brieftauben fand damals beim Bahnhof Muolen statt. Ernst Bühler bemerkt, dass sich die beiden selbstständigen Brieftaubensportvereine Uzwil und Muolen vor etwa 20 Jahren zum Brieftaubensportverein Bodensee zusammengeschlossen haben. Nach dem Verlad, jeweils am Freitagabend in Muolen, gehe es weiter ins zürcherische Embrach und anschliessend in den Raum Basel, wo weitere Brieftauben zugeladen werden. Startort des ersten Distanzfluges sei in der französischen Stadt Montbéliard. Zum letzten saisonalen Flug mit einer Distanz von etwa 700 Kilometern werde in Le Mans gestartet.
Entfernung laufend erhöht
Das Distanzfliegen beginne für Alttauben (Tauben, die älter als ein Jahr sind) am ersten Wochenende im Mai mit einer Strecke von ungefähr 170 Kilometern. Jedes Wochenende wird dann bis Mitte Juli geflogen und dabei die Entfernung laufend erhöht. Jungtauben (bis einjährig) haben einen gesonderten Wettbewerb und werden im Juli auf kurzen Strecken mehrmals vortrainiert. Von Anfang August bis Mitte September dauert die Distanzflugsaison für sie. Alttauben absolvieren zwölf Distanzflüge pro Saison, Jungtauben insgesamt fünf. «Bei Rückenwind liegen 120 Stundenkilometer drin, bei starkem Gegenwind sind die Tauben nicht so schnell unterwegs», weiss der Amriswiler. Doch eines ist sicher: «Die Brieftauben sind jeweils schneller zurück als der Fahrer mit dem Lieferwagen.» Die genaue Flugzeit wird mithilfe modernster Elektronik ermittelt. Dazu tragen die Tiere einen elektronischen Chip-Ring. Bei der Ankunft im Heimatschlag überqueren sie eine Sensorantenne, welche die Ankunftszeit festhält. Jene Taube, die am schnellsten zum heimatlichen Schlag zurückgefunden hat, ist Siegerin.
Ab Mitte September finden keine Distanzflüge mehr statt. «Dann beginnt die Mauser», erklärt Ernst Bühler. In der Mauser wird das Gefieder der Tauben erneuert, denn dieses muss optimal für das nächste Jahr – bei einer ausgewogenen Fütterung – den hohen Anforderungen genügen. Gutes Federwerk sei entscheidend für die enormen Flugleistungen.
Bis 3500 Kilometer im Jahr
Brieftauben haben einen ausgeprägten Orientierungssinn und finden immer den direkten Weg nach Hause. Sie können sich am Erdmagnetfeld orientieren und bestimmen aufgrund des Sonnenstands die Himmelsrichtungen. In der Nähe ihres Taubenschlags benutzen sie topografisch sichtbare Objekte als Navigationshilfe. «Einige Brieftauben fallen dem Habicht, dem Wanderfalken oder Sperber zum Opfer», bedauert der BSV-Präsident. Zudem komme es immer wieder mal vor, dass sich Tauben wegen Störungen in der Atmosphäre und Greifvogelangriffen verfliegen. Aus diesem Grunde trägt jedes Tier auch einen Fussring mit der Telefonnummer des Besitzers. Unter optimalen Bedingungen wird eine Brieftaube 12 bis 13 Jahre alt. Sie wird bis fünfjährig für Distanzflüge eingesetzt und fliegt dabei jährlich 3000 bis 3500 Kilometer.
Ernst Bühler lässt seine Brieftauben täglich etwa eine Stunde ausfliegen, und dies das ganze Jahr hindurch. Danach kehren die Vögel hungrig zurück und werden mit Körnern gefüttert. Brieftauben ernähren sich ausschliesslich von Körnerfutter und Wasser, Stadttauben hingegen von Brot und anderen Essensresten. Der Hobbyzüchter betont, dass Brieftauben saubere Tiere seien, im Vergleich zu den Stadttauben, die überall ihren Kot hinterlassen. Einmal pro Woche stellt Ernst Bühler seinen Vögeln eine Wanne mit Wasser hin. Darin wird ausgiebig geplanscht. «Tauben können nämlich nicht schwitzen, zwischen den Federn bildet sich dafür feiner Staub.» Ernst Bühler verrät, dass er dem Taubenfutter zweimal wöchentlich gemahlenen Ingwer, Kurkuma und Pfeffer beifüge – angereichert mit Leinöl. Die Inhaltsstoffe würden eine gute Verdauung fördern, das Immunsystem stärken und positiv auf die Atemwege wirken. Der Hobbyzüchter betont auch, dass sämtliche Tauben vor ihrem ersten Langstreckenflug vorbeugend gegen Infektionskrankheiten geimpft werden.
Kulturgut bewahren
Brieftauben seien ein jahrhundertealtes Kulturgut, das bewahrt werden soll. «Wenn man die Tiere erhalten möchte, müssen auch Anforderungen an sie gestellt werden. Würden wir keine Distanzflüge mit ihnen machen, gäbe es keine Brieftauben mehr», gibt er zu bedenken. Brieftauben seien für ihn Erholung im Alltag. Die Beschäftigung mit Tauben sei durchaus auch ein Rentnersport und halte geistig und körperlich agil, sagt Ernst Bühler. «Es gibt für mich nichts Schöneres, als draussen vor dem Haus zu sitzen und auf die Rückkehr meiner Brieftauben zu warten. Wer keine Tauben hat, weiss gar nicht, was er verpasst.»