Steinbock: Überlebenskünstler am Säntis
Nicht nur der Alpenkönig fasziniert Jung und Alt, auch die heimliche Lebensweise des Alpenschneehuhns begeistert Naturfreunde und Fotografen. Das Säntisgebiet bietet optimale Lebensbedingungen für zwei echte Spezialisten, denen der Klimawandel unterschiedlich in die Hände spielt.
Fast schwerelos gleitet die Kabine an diesem Sommermorgen der Säntis-Luftseilbahn über die Felsbänder auf den 2502 Meter hohen Wetterberg. Nach imposanter Fahrt lässt der Ausblick über das Sechs-Ländereck Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich, Liechtenstein und die Schweiz den Atem stocken. Ein stattliches Steinbockrudel aus Kitzen, Steingeissen und ehrwürdigen Böcken mit ihren wulstigen Hörnern und unverkennbaren Kinnbärten liegen unterhalb des Girenspitz mit einer stoischen Ruhe in der Morgensonne. Die Gipfelstürmer, welche Anfang des 19. Jahrhunderts in der Schweiz vollständig ausgerottet und später wieder angesiedelt worden sind, bleiben trotz Annährung bis auf wenige Meter selbstbewusst liegen. Kitschiger kann das Fotosujet kaum angerichtet sein.
Meister der Fortbewegung
Die legendären Kletterkünste verdanken die früher vor allem als wandelnde Apotheken bekannten Könige, weil fast jedem Körperteil eine heilende Wirkung zugesprochen wurde, den besonderen Hufen. Weiche Innenballen und zwei Zehen, die unabhängig voneinander bewegt werden können, sorgen für eine perfekte Anpassung an kleinste Unebenheiten. Zurück auf dem Gipfel lädt das idyllische Berggasthaus «Alter Säntis» zur Sammlung neuer Kräfte ein. Plötzlich unterbricht ein knarrender Reviergesang die idyllische Ruhe. Mehrere Alpenschneehühner wurden soeben durch einen Berggänger aufgeschreckt und wechseln mit flinken Flügelschlägen ihren Standort. Geduldig wird jeder Winkel der schroffen Felsformation zuerst mit dem Fernglas und danach zu Fuss akribisch abgesucht. Schliesslich lassen sich zwei Schneehühner beim vermuteten Aufenthaltsort eindrücklich aus nächster Nähe betrachten. Die Hühnervögel tragen im Winter ein vollständig weisses Federkleid, selbst die Zehen sind dann bis an die Krallen dicht befiedert. Nebst einem hervorragenden Kälteschutz verhindert dies beim Tippeln das Einsinken in den Schnee– wie wir mit Schneeschuhen.
Ein Steinbockrudel beim Girenspitz.
Diverse Auswirkungen
So paradox sich das anhört, doch der Klimawandel scheint dem Alpenkönig gut zu tun: Höhere Frühlingstemperaturen und frühere Schneeschmelze verbessern das Nahrungsangebot. Dies fördert das Hornwachstum, was ein Indiz für Vitalität ist. Nicht überall ist er Nutzniesser. Gerade im Winter ist der genügsame Wiederkäuer aufgrund des schmalen Nahrungsangebots und der Erholung auf Standplätze angewiesen. Auch das Schneehuhn, das sich zum Schlafen im Schnee einbuddelt und somit die isolierende Wirkung nutzt, reagiert auf Vibrationen von Skifahrern und Schneeschuhläufern abseits der Pisten sensibel, indem es bei der Flucht viel Energie verliert. Durch den weltweiten Temperaturanstieg verschiebt sich die Baumgrenze nach oben, die ökologische Nische kann zur Klimafalle werden, da ein Ausweichen des Federvogels nur bis zum Gipfel möglich ist. Und ohne eine Zeit lang mit anhaltender, geschlossener Schneedecke ist die Tarnung vor Feinden wie dem Steinadler, Wanderfalken und Fuchs ohnehin herausfordernd.
Tipps zum beobachten
Die öffentlichen Verkehrsmittel bringen die Besuchenden bequem mit dem Zug nach Urnäsch und von dort mit dem Postauto zur Talstation der Schwebebahn auf der Schwägalp. Gleichenorts stehen viele kostenlose Autoparkplätze zur Verfügung. Der Aufstieg kann alternativ zu Fuss mit profilreichen Bergschuhen über die Tierwis erfolgen. Nicht selten sind vom Wanderweg aus Gämsen, Murmeltiere oder auch Steinadler aufzuspüren.
Erfolgversprechend lässt sich das tagaktive Alpenschneehuhn besonders in den gut zugänglichen Geröllhalden und Felsformationen unterhalb des pittoresken Berggasthaus «Alter Säntis» nach der ersten Schneeschmelze bis in den Herbst hinein ausmachen. Da der Vogel erst losflattert, wenn der Mensch schon ganz nah herangekommen ist, gelingen in der Regel mit gewöhnlicher Fotoausrüstung vielversprechende Aufnahmen. Aus Respekt gegenüber der Natur empfiehlt es sich aber ausreichend Abstand zu halten und für formatfüllendes Ablichten ein Teleobjektiv ab einer Brennweite von 200 mm einzusetzen.
Rund um den Säntis lässt sich der mit Berggängern vertraute Steinbock gut im auffallenden Rudel oder in kleineren Gruppen lokalisieren. Auch die modernen Räumlichkeiten des Restaurants «Säntisgipfel» laden zum ungezwungenen Reflektieren des Erlebten ein. Der Weg hinunter kann bequem mit der Bahn oder, wer noch nicht genug von Mutter Natur hat, zu Fuss, im Bewusstsein, dass die Natur immer noch die beste Apotheke ist, erfolgen.